Das „Nachtschicht“-Angebot ist geprägt von den Interviews, die Pfarrer Ralf Vogel mit wechselnden, oft prominenten Gästen führt. Dazu kommen performative Elemente und eine thematisch passende musikalische Gestaltung. „Die Dialogform hat mich gleich angesprochen. Vor allem aber die Kombination aus Tradition und neuartigen Elementen“, fasst die Pfarrerin die Eindrücke ihrer Besuche zusammen und meint: „Um ihren dialogisch-performativen Kern herum hat die ,Nachtschicht‘ mit Liedern und Gebeten eine recht traditionelle Liturgie.“ Zwar gebe es keine klassische Schriftlesung, dafür aber ein Anspiel durch das Team oder eine Installation, die diese Funktion ein Stück weit übernehme.
Besondere Gottesdienste - Der Moment macht neugierig
Tanja Martin spricht daher von einem Hybrid-Event-Charakter, der an sich jedem Gottesdienst zugrunde liege. Dennoch: „Der Moment des Events macht neugierig“, weiß die Theologin aus ihren Befragungen von „Nachtschicht“-Besuchern. Dabei bekam sie etwa zu hören: „Ich bin so gespannt, was sich Pfarrer Vogel heute wieder hat einfallen lassen.“ Gleichzeitig sei diesen Personen wichtig gewesen, dass ihnen der Ort und der Rahmen vertraut war.
„Geht es um alternative Gottesdienste, erlebe ich oft, dass die Vorstellung regiert: Man müsse alles neu erfinden“, erklärt Tanja Martin. Dies sei ein Trugschluss. „Der Mensch will sich zuhause fühlen, sich aber nicht langweilen.“ Genau das leiste die „Nachtschicht“, die stets einen Bezug zum Alltag herstellt.
„Aus theologischer Sicht finde ich das Format spannend, weil sich hier Menschen begegnen können, die sich im normalen Alltag nicht über den Weg laufen, und die anschließend gemeinsam essen und trinken“, erklärt Tanja Martin. Mit Blick auf das Abendmahl gehört das aus meiner Sicht zum Gottesdienst dazu.“
Lässt sich die „Nachtschicht“ auf andere Gemeinden übertragen? Da ist die Theologin skeptisch: „Jede Gemeinde ist anders. Als Pfarrerin muss ich mich nach den Bedürfnissen der Menschen richten.“ Zudem wäre der Aufwand für eine Ortsgemeinde zu groß. Nicht umsonst steht Pfarrer Vogel dafür eine 25-Prozent-Stelle zur Verfügung.
Pfarrerin Tanja Martin hat sich für ihre Doktorarbeit mit speziellen Gottesdiensten beschäftigt.
© Foto: Sawatzki
Besondere Gottesdienste - viel Raum zum Mitwirken
Dennoch lässt sich von besonderen Gottesdiensten viel lernen. „Man kann untersuchen, was die Menschen anspricht: die Person, die Authentizität, die Erzählung, die Betroffenheit, das Lebensweltliche“, schlägt Tanja Martin vor. Diese Elemente könne man jedoch auch auf andere Weise in einen Gottesdienst holen: durch einen Bericht innerhalb der Predigt oder durch einen Filmausschnitt . „Bei allem geht es aber immer darum, den richtigen Rahmen für die Verkündigung des Evangeliums zu schaffen. Das darf auf keinen Fall fehlen“, sagt sie. Bei der „Nachtschicht“ sieht die Pfarrerin das gegeben: Hier gehe es um die Kommunikation des Evangeliums und darum zu zeigen, dass die christliche Botschaft für unsere heutige Welt relevant is.
Beeindruckend sei auch, wie viele Menschen an der „Nachtschicht“ mitwirken – beratend im Vorfeld, während des Gottesdienstes im Chorraum, aber auch als Besucher. „Das ist ein riesiger kommunikativer Akt und letztlich Gemeindearbeit pur.“
Bei aller Welthaltigkeit: „Ich finde es wichtig, dass wir über aktuelle Alltagsthemen unsere Perikopenordnung nicht vergessen und übers Kirchenjahr immer wieder von den Bibeltexten aus nach Bezügen zum Leben suchen.“ Nicht nur deshalb glaubt Tanja Martin nicht, dass innovative Elemente die althergebrachten ersetzen können. „Es geht vielmehr um einen spielerischen Umgang mit diesen Einsichten und Ansätzen. Es muss nicht immer das Feuerwerk sein.“
Außerdem lebten Angebote wie die „Nachtschicht“ von der Verknappung. „Würde die ,Nachtschicht‘ Normalität, würde sie an Attraktivität verlieren“, sagt Tanja Martin. Sie sieht in der Tradition eine Stärke, wenn diese stetig überprüft wird. Ganz im Sinne von Thomas Morus: „Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“