Der Wortlaut der Stuttgarter Schulderklärung ist kurz, aber gewichtig; es lohnt sich, sie gerade heute im Wiedererstarken völkischer Kräfte zu lesen. Eine Formulierung sei besonders hervorgehoben: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden … Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“
Eine der ersten Veröffentlichungen des Stuttgarter Schuldbekenntnisses erfolgte in der Ausgabe des Evangelischen Gemeindeblatts für Württemberg vom 11. November 1945. Foto: Gemeindeblatt-Archiv
Dieses schmerzvolle Bekenntnis wurde im Ausland durchaus anerkannt. Doch in Deutschland erhob sich ein heftiger Sturm der Kritik. Von Schmach und Entwürdigung des deutschen Volkes war die Rede. Evangelische Kirchenvorstände und Amtsträger protestierten aufs Entschiedenste gegen das Schuldeingeständnis von Stuttgart. Einem echten Neuanfang wollten keineswegs alle folgen, mochten zu den Unterzeichnern der Erklärung auch hervorragende Geistliche wie Martin Niemöller und die Bischöfe Theophil Wurm und Martin Dibelius gehören. Allerdings galt auch für diese, dass die Stuttgarter Schulderklärung die wirkliche Tiefe der Schuld nicht erreichen wollte. Der Holocaust blieb ausgespart. Das Bekenntnis zum Alten Bundesvolk Israel fehlte gänzlich. Über die Ermordung der Europäer mit jüdischen Wurzeln verlor man am 18. Oktober nicht ein einziges Wort.
Warum sich das Stuttgarter Schuldbekenntnis – wie übrigens auch die Barmer Theologische Erklärung 1934 – nicht auf die Seite des Alten Bundesvolkes stellte, bleibt mithin rätselhaft. Vielleicht stellte die Neuordnung der evangelischen Kirche eine übergroße Aufgabe dar? Vielleicht verlor man sich in jener typischen kirchlichen Selbstbeobachtung, die unempfänglich macht für das, was außerhalb der selbstgesetzten geistlichen Mauern geschah? Oder war jenes Grauen, das Deutsche Deutschen unter dem sehenden Blick der Kirche angetan hatten, schlicht zu unfassbar? Erst Jahre später begannen die evangelischen Kirchen, sich ihrem Versagen den Juden gegenüber zu stellen.
Bei aller berechtigten Kritik muss man jedoch dafürhalten, dass die Stuttgarter Schulderklärung am 18. Oktober 1945 ein mutiger Schritt war; ein Schritt, den die Deutschen jener Tage, lange Zeit darüber hinaus und, wie man nicht ohne Erschütterung erkennen muss, viele auch heute noch, verweigern. □
◼ Stuttgarter Schulderklärung im Internet: www.ekd.de/Stuttgarter-Schulderklarung11298.htm