Die gesellschaftliche Akzeptanz von Kirche sinkt. Könnte die Krise der Kirche auch zur Krise der Diakonie werden?
Annette Noller: Meine Generation kommt aus der Ära des großen Aufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir werden diesen Aufbau nicht fortsetzen können. Wir müssen uns konzentrieren und in Hinsicht auf Finanzierungsmodelle schlaue Ideen entwickeln. Wir brauchen neue Konzepte: Konzentration und Innovation.
Diakonie ist im Sozialstaat ein Anbieter unter vielen. Wie kann die Diakonie ihre Besonderheit, das evangelische Profil, einbringen?
Annette Noller: Durch die Art und Weise, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beraten, pflegen, wie sie ein Heim ausstatten und leiten. Ich habe viele Fortbildungen für Führungskräfte in der Diakonie gemacht und da kam oft der Satz: „Ich habe gleich gemerkt, dass hier etwas anders ist.“ Wir sind auch für die Seele da. Das wird schwieriger, wenn die Ressourcen knapper werden und die Mitarbeitenden nicht mehr christlich sozialisiert sind. Wir müssen daran arbeiten, dass man merkt: Hier hängt die biblische Jahreslosung nicht nur an der Wand, sondern sie wird auch gelebt. Zu uns kommen viele Menschen, die eine andere Religion haben, die nicht von uns missioniert werden wollen – die aber trotzdem die Kultur und den Geist, die bei uns herrschen, schätzen.
Annette Noller, Tobias Glawion und Dorothee Schöpfer in den Räumen des Evangelischen Gemeindeblattes im Gespräch. Foto: Julian Rettig
Wie können Sie Mitarbeiter finden, die ihren Glauben in der Arbeit zum Ausdruck bringen, wie das etwa die Diakonissen getan haben?
Annette Noller: Eine Diakonisse ist allein durch ihre Tracht erkennbar als jemand, der sein Leben in den Dienst der Nachfolge Jesu gestellt hat. Sie musste noch nicht einmal mit Patienten am Bett beten, weil man wusste, sie wird regelmäßig mit ihren Schwestern beten – auch für ihre Patientinnen und Patienten. Diese spirituellen Gemeinschaften hatten eine hohe Aussagekraft. Das haben wir so nicht mehr. Heute braucht es „Ankerpersonen“ in der diakonischen Arbeit, wie es früher die Diakonissen waren. Das können Diakone oder Pfarrerinnen sein und alle gläubigen Menschen, die für das Diakonische stehen, die Vorbilder sind.
Auch für die Seele da
Als Vorstandsvorsitzende der Diakonie sind Sie auch ein Vorbild. Wie werden Sie das ausfüllen?
Annette Noller: Ich hoffe, dass man mir immer anmerkt, dass ich ein gläubiger Mensch bin. Und dass das auch nicht verloren geht, wenn ich Entscheidungen treffen muss, die eventuell nicht alle akzeptieren können. Aber man sollte mir dabei abnehmen, dass ich sie aus einem demütigen und gläubigen Gemüt treffe. Der christliche Gedanke der Rechtfertigung gründet darauf, dass wir in unserer Fehlerhaftigkeit, in unserer Sündhaftigkeit immer wieder neu anfangen dürfen und Gnade erfahren. Ich wünsche mir so eine Kultur unter uns Mitarbeitenden der Diakonie. Wir müssen nicht perfekt sein, aber bereit dazu, Lösungen zu finden.
Foto: Sabine van Erp, Pixabay
„Wirtschaftliches Handeln unterstützt die Erfüllung des Auftrags der Diakonie“ steht im Leitbild – ist das nicht verbale Schönfärberei? Wie ist der Spagat zwischen Helfen und Wirtschaftlichkeit zu meistern?
Annette Noller: Wirtschaftlichkeit und Diakonie widersprechen sich in keiner Weise! Wirtschaftlichkeit ist immer geboten: ob bei der Verwendung von Spenden oder beim Einsatz von Ehrenamtlichen. Gustav Werner der Gründer der gleichnamigen Stiftung, hat Fabriken gebaut, um den Menschen Teilhabe zu ermöglichen. Ich möchte eine menschenfreundliche Wirtschaftlichkeit in der Diakonie. Ressourcen zu aktivieren, ist eine Aufgabe im urevangelischen Sinn – so sehe ich auch meine Aufgabe als Managerin. Diakonische Arbeit wird heute zu großen Teilen durch öffentliche Gelder finanziert. Wir tragen für die wirtschaftliche Verwendung Verantwortung.
Was ist die größte Herausforderung, der sich die Diakonie in den kommenden Jahren stellen muss?
Annette Noller: Mir ist das Thema Existenzsicherung wichtig. Immer mehr Menschen werden obdachlos, und zwar nicht nur aus biografischen Brüchen heraus, sondern zunehmend aufgrund von Wohnungsnot. Wer hätte vor dreißig Jahren gedacht, dass es Millionen von Kindern gibt, die in Armut aufwachsen? Dass alte Menschen in Mülleimern nach Pfandflaschen suchen? Das ist für mich unerträglich.
Durch Corona wird die Zahl der Bedürftigen steigen, die Steuereinnahmen werden geringer. Von welchen Aufgaben muss sich die Diakonie verabschieden?
Annette Noller: Ich möchte nichts verabschieden. Ich setze auf Konzentration. Vielleicht können wir nicht mehr alles an jedem Standort anbieten. Aber ich möchte keine unserer wichtigen Aufgaben abgeben. Wir müssen mehr Energie und Fantasie darauf verwenden, wie wir sie halten können.
Worauf stützen Sie sich, was gibt Ihnen Kraft?
Annette Noller: Es gibt so viele schöne Stellen in der Bibel … Gestern ist mir zum Beispiel der Psalm 139 in den Sinn gekommen: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“ Mich tröstet das Gefühl, dass wir in allem, was wir tun, auch in dem Schweren, das wir erleben, gehalten sind – auch an diesen äußersten Grenzen des Meeres, in den Grenzsituationen. □