Sind Kasualgemeinden ein Spiegel der Familien?
Kristian Fechtner: Ja und nein. Kasualien sind ganz eng mit Familien verknüpft, denn jede Kasualie ist mehr oder weniger eingebettet in familiäre Beziehungen. Zugleich sind sie immer mehr als nur eine Familienfeier. Sie sind als kirchlich gestaltete Rituale etwas, worin die Familie sich überschreitet. Das, was da passiert, wird öffentlich. Und die Familie bekommt Impulse, die etwas in Bewegung bringen. Familie verändert sich, überschreitet sich, erneuert sich, vergewissert sich.
Nehmen wir das Beispiel einer Hochzeit. Wer soll eingeladen werden?
Kristian Fechtner: Das kann ich nicht pauschal beantworten. Gerade Hochzeiten sind ein Feld, das sich immer mehr ausdifferenziert. Die einen fahren zu zweit weg, um sich in Las Vegas trauen zu lassen, die anderen feiern ein großes Fest mit Freunden und Bekannten. Der Freundeskreis wirkt bei einer Trauung stärker als bei einer Taufe. Aber auch dort gibt es die interessante Entwicklung, dass Patinnen und Paten häufiger aus dem Freundeskreis gewählt werden – das wäre früher kaum denkbar gewesen.
Manchmal sind Freundinnen und Freunde präsenter als die Familie.
Kristian Fechtner: Das hat etwas mit den spätmodernen Lebensverhältnissen zu tun: Feiern bilden gelebtes Leben ab. Es gibt Menschen, die Familie sehr eng leben. Das zeigt sich etwa an der Art, wie sie wohnen, dass etwa Geschwister im Haus sind. Aber es gibt auch viele urbane Lebensverhältnisse mit Freundschaftsbeziehungen, die nicht beliebig sind. In denen ist die Familie so etwas wie eine Grundierung des eigenen Lebens, eher ein Beziehungshintergrund.
Wird dort der Freundeskreis zur neuen Familie?
Kristian Fechtner: Familienverhältnisse waren immer im Fluss. Das, was Familie ausmacht, ist vielfältig. Das heißt für Feiern, dass alles viel komplizierter wird. Allein die Sitzordnung! Bei Geschiedenen etwa – wer sitzt da wo? Wie ist das mit den Kindern aus verschiedenen Ehen? Das erfordert viele Aushandlungsprozesse.
Feiern werden immer individueller.
Kristian Fechtner: Nicht jede originelle Idee ist auch eine gute Gestaltungsmöglichkeit. Nehmen wir eine Hochzeit, bei der die Braut durch den Brautvater hineingeführt wird wie im Hollywood-Film. Wenn man damit spielen will, kommt man vielleicht auf die Idee, dass der Bräutigam sich von seiner Mutter hinführen lässt. Dies mag emanzipatorisch gemeint sein, aber ein Großteil der Gemeinde sieht vielleicht ein „Muttersöhnchen“.
In die erste Reihe setzt sich bei einer Hochzeitsfeier kaum jemand zufällig. (Foto: epd-bild)
Werden bei Hochzeit, Trauerfeier, Taufe und Konfirmation also Beziehungen überprüft?
Kristian Fechtner: Ja, aber sie sind nicht nur eine familientherapeutische Veranstaltung, sondern es passiert auch etwas religiös. Dann werden, beispielsweise bei einer Taufe, Fragen gestellt: Wer sorgt für das Kind? Was heißt es, als Familie an Grenzen der Fürsorge zu gelangen? Das, was wir bei Kasualien tun, ist auch in dieser Perspektive familienrelevant.
Was bedeutet das?
Kristian Fechtner: „Wen laden wir eigentlich zur Konfirmation unseres Sohnes ein?“ ist eine Frage in der Vorbereitung. Da kann es den Bruder des Vaters geben, mit dem man seit vielen Jahren über Kreuz liegt. Jetzt muss in der Familie ein Prozess stattfinden: Gehört er dazu? Kann man den dabeihaben? Es finden Klärungen statt. Manchmal Aussöhnungen. Es kann auch deutlich werden, dass es Beziehungen in der Familie gibt, die man so nicht weiterführen kann und will.
Es gibt auch Menschen, die eingeladen wurden, aber bewusst nicht teilnehmen – etwa an einer Trauerfeier.
Kristian Fechtner: Trauerfeiern sind – wie alle Gottesdienste – öffentliche Veranstaltungen. Die Entscheidung, nicht anwesend zu sein, ist ein symbolischer Akt – gegenüber anderen, aber auch für sich selbst. Das ist oft schmerzlich für alle Beteiligten. Kasualien sind nicht harmlos. Sie sind, familiendynamisch gesehen, harte Arbeit, nicht selten auch ein Wagnis.
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Kristian Fechtner schaut sich Familienfeiern als Forscher an. (Foto: Volker Dettmar)
Kristian Fechtner ist evangelischer Professor für Praktische Theologie an der Universität Mainz.
Er forscht unter anderem zur spätmodernen Kasualpraxis und zu „Populäre Kultur und Religion“.