Was hat Ihnen in den letzten Monaten so viel Mut gegeben, dass Sie ein Buch zur Krise geschrieben haben, das von Achtsamkeit bis Zuversicht reicht?
Margot Käßmann: Ich habe bei der Seelsorge-Aktion der Zeitschrift „Stern“ mitgemacht. Da haben viele Anrufer gesagt, wie wichtig es ihnen war, neue Zuversicht zu bekommen. Viele Menschen sind verzagt und das ist auch verständlich: Sie haben ihren Arbeitsplatz verloren, wissen nicht, wie es weitergeht, waren mit der Homeschooling-Situation überlastet. Die möchte ich ermutigen.
Hat Corona unsere Perspektive geweitet?
Margot Käßmann: Es gibt positive Seiten: Viele haben gemerkt, wir müssen nicht auf die Malediven fliegen, können auch in der Eifel Urlaub machen. Menschen, die in einem Haus wohnen, sind sich nähergekommen. Ich habe sehr viele Mails und Briefe von Menschen bekommen, die sich abends um 19 Uhr zum Singen verabredet haben. Da ist eine neue Wertschätzung gewachsen für die Gemeinschaft, in der ich lebe.
Ruhrtalsperre in der Eifel. Foto: Marisa04 / Pixaby
Gleichzeitig gibt es Demonstrationen von Menschen, die die Existenz von Corona verleugnen oder überzeugt davon sind, dass das Maskentragen ihre Freiheitsrechte beschneidet.
Margot Käßmann: Dieses Phänomen muss uns Sorgen machen, auch weil sich in die Demonstrationen Leute mit antisemitischen Thesen mischen. Allerdings: Man muss die Zahlen dieser Demonstranten ins Verhältnis zur Gesamtheit bringen – es sind keine Millionen, die protestieren. Freiheit ist der große lutherische Begriff. Aber Luther hat nicht nur gesagt „Der Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan“, der Satz geht weiter: „Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. Freiheit ist immer auch die Achtsamkeit für die anderen, ich kann nicht meine Freiheit gegen andere leben. Freiheit ist auch eine Verantwortung für die Gemeinschaft. Das müssen wir Menschen sagen, wenn sie mit ihrer Maskenverweigerung die Freiheit aller gefährden.
Ein anderes Thema, das Sorgen bereitet: Der Kirche laufen die Mitglieder davon, 270 000 Menschen traten 2019 aus der evangelischen Kirche aus. Was läuft da schief?
» Christen leisten einen Beitrag zur Stabilitätder Gesellschaft «
Margot Käßmann: Es ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, dass Menschen sich nicht mehr binden wollen. Weder an Parteien noch an Gewerkschaften und eben auch nicht an Kirchen. Aber ich bin traurig über jeden, der austritt. Doch wir sollten vor allem unsere Mitglieder stärken und ihnen sagen: ‚Es ist gut, dass ihr dabei seid; ihr leistet damit auch einen Beitrag zur Stabilität der Gesellschaft‘. Ich wünsche mir mehr Wertschätzung für die, die weiterhin in der Kirche bleiben.
Die Kirche hat einen immensen digitalen Schub erlebt in den letzten Monaten. Aber bei all den gestreamten Gottesdiensten: Viele Ältere sind in der digitalen Welt nicht beheimatet.
Margot Käßmann: Es gibt auch noch die guten alten Fernsehgottesdienste, die tolle Einschaltquoten hatten. Viele, die nicht digital unterwegs sind, haben Radiogottesdienste gehört. Ich habe in meiner Gemeinde in Hannover erlebt, dass Mitglieder mit Briefen angeschrieben wurden. Die Kirche hat sich große Mühe gegeben, die zu erreichen, die nicht digital erreichbar sind. Aber auch ich war heilfroh, als ich am Pfingstsonntag endlich wieder einen normalen Gottesdienst feiern konnte. Ein Gottesdienst im Freien, bei dem ich mit anderen singen, beten, Brot und Wein teilen konnte.
Hat sich die Kirche auf dem Höhepunkt der Krise zu klein gemacht, zu vieles akzeptiert, wie die Besuchersperre in den Pflegeheimen?
Margot Käßmann: Ich weiß von vielen Seelsorgegesprächen, die auf Abstand geführt wurden, kenne einen Kollegen, der sich eingeklagt hat, um im Pflegeheim Abschied nehmen zu können von einer Sterbenden. Die Situation in den Heimen war dramatisch, das war ein großes Dilemma. Darüber müssen wir schon noch einmal reden. Ich finde es nicht haltbar zu sagen, niemand darf mehr zu Besuch kommen. Man darf Menschen nicht einfach wegsperren, darüber müssen wir im Hinblick auf die Schwächsten sprechen: die Alten und die Kinder. Dass Kinder wochenlang nicht rauskonnten auf die Spielplätze, fand ich kaum verantwortbar.
Corona Maskenpflicht Foto: Markus Winkler / miarami / pixaby
Sie sind siebenfache Großmutter. Wie haben Sie die Zeit erlebt, als sie sich von den Enkeln fernhalten mussten?
Margot Käßmann: Das war sehr traurig. Mit meinen Enkeln zusammenzusein ist etwas so Schönes, das macht mich – und hoffentlich auch sie – glücklich. Ich habe angefangen, ihnen zu einer bestimmten Uhrzeit auf Skype vorzulesen, auch um bei der Tagesstruktur der Familien zu helfen. Aber es ist etwas völlig anderes, ob du einem Kind am Bildschirm etwas vorliest oder ob es auf deinem Schoß sitzt.
Besonnenheit und Geduld werden noch lange Zeit gefragt sein. Was tun Sie, wenn die Geduld nachlässt?
Margot Käßmann: Manchmal hilft es mir, zu lachen, die Ironie in den Dingen zu sehen. Und wir müssen uns gegenseitig ermutigen. Ich verstehe es schon, wenn Menschen die Geduld verlieren. Diese Krise ist ja sehr ungerecht, sie trifft nicht alle gleich. Die einen bekommen weiter ihr Geld, die anderen stehen am Rand ihrer Existenz. Aber wir können uns zuhören und aufeinander achten.