An einer Querstraße steht das nächste Polizeiauto, an einer weiteren wartet das dritte. Irgendwie sei es eine beklemmende Erfahrung, dass man in Deutschland beim Besuch der Synagoge unter Polizeischutz stehe, meinen später einige, die mitgegangen sind. Es sind ja nur wenige hundert Meter Weg. Aber ein Risiko will man eben auch nicht eingehen. Vor dem Hof der Synagoge bleibt die Versammlung stehen. Und schweigt.
Susanne Jakubowski vom Vorstand der jüdischen Gemeinde begrüßt die Gäste und bittet gleichzeitig um Verständnis für die Sicherheitsmaßnahmen. In ihre Ansprache mischt sich der alltägliche Lärm der Großstadt. Autos, Lastwagen, Baustellen. Jakubowski freut sich über die Besucherinnen und Besucher, wenngleich der Anlass ein trauriger ist. „Wir müssen uns bewusst werden, dass der Extremismus viele verschiedene Seiten hat“, sagt sie. Und genau deshalb müsse die evangelische Gemeinde mit der jüdischen im Gespräch bleiben. „Wir sollten uns häufiger treffen, nicht nur zu Anlässen wie diesem.“
„Manche Menschen fragen sich, ob solche Solidaritätsbekundungen überhaupt etwas bringen“, sagt Michael Kashi, ebenfalls im Vorstand der Gemeinde. Er erinnert daran, dass 1938 an der Stelle, an der die Versammelten heute stehen, die alte Synagoge von Stuttgart gebrannt hat. „Und niemand hat damals ein Wort dagegen gesagt, die Juden waren ganz allein“, sagt Kashi. Und das sei nicht das erste Mal in der Geschichte der Juden so gewesen. Heute sei es anders. „Mit ihrem Besuch zeigen Sie uns, dass wir heute nicht alleine sind. Dieses Mal empfangen wir etwas anderes, etwas Neues. Das sind keine leeren Worte von Ihnen, dass Sie mit uns verbunden sind.“
Die stellvertretenden Präsidenten Johannes Eißler und Werner Stepanek entzünden eine Kerze.
© Foto: Werner Kuhnle
Die Versammelten blicken still und konzentriert Richtung Synagoge. „Mörder sind keine Helden, sie dürfen keine Vorbilder sein“, sagt Landesbischof Frank Otfried July und erntet zustimmendes Raunen und Kopfnicken. July betont, dass Juden und Christen „geliebte Kinder des einen Gottes“ seien. Und Antisemitismus sei Gotteslästerung, ein Angriff auf Gottes Ebenbild. Die Vorfälle in Halle seien weit mehr als nur ein Alarmzeichen. „Wir fordern dazu auf, Hass und Gewalt nicht zu verharmlosen, sondern dagegen aufzustehen.“ July fordert die evangelischen Gemeinden dazu auf, auf Juden zuzugehen und sie zu akzeptieren, in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Er fordert auf, Antisemitismus anzusprechen und zu verurteilen – getreu dem Motto „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“. Es ist der Moment, zu dem die stellvertretenden Synodalpräsidenten Werner Stepanek und Johannes Eißler eine weiße Kerze im Glas entzünden, um sie vor der Skulptur des brennenden Dornbuschs vor der Synagoge abzustellen und ein stilles Gebet zu sprechen. Landesbischof July und die Vertreter der jüdischen Gemeinde stehen Seite an Seite, im Gebet vereint. Fotografen wollen diese Augenblicke auf Bildern festhalten und bemühen sich diskret, den besten Platz für die Aufnahme zu ergattern. Die Gruppe der Betenden steht fest, viele die hier zusammengekommen sind, beten still mit. Als der Landesbischof fertig ist, hat er Tränen in den Augen.
„Dass Sie zu uns kommen, ist nicht nur für das Foto wichtig“, sagt Rabbiner Yehuda Pushkin im Anschluss. Es sei entscheidend, „dass wir so unsere Unterschiede in der Höhe überwinden können“. Damit meint er, erläutert er sogleich, eine Stelle aus dem Kaddish, dem jüdischen Gebet für die Verstorbenen. Darin heißt es von Gott, „der Frieden stiftet in seinen Höhen“. „Wir sind uns auf der Ebene des Glaubens viel näher als wir glauben – und wir können Brücken bauen“, sagt Pushkin.
Die Solidarität der evangelischen Kirche sei sehr wichtig, sagt der Rabbiner. Viele Menschen würden glauben, das Mahnwachen oder Solidaritätsbekundungen nichts bringen. „Aber jedes Wort des Trostes, jedes Wort der Unterstützung hilft.“ Es gehe nicht nur darum, dass andere die jüdische Glaubensgemeinschaft schützten, die Polizei sei natürlich wichtig. Aber „aus Ihrer Hilfe werden wir stärker und wir bekommen auch mehr Verständnis für unser eigenes Judentum.“ Er liest den Psalm 19, zunächst auf Hebräisch, dann auf Deutsch. Dabei schwankt sein Oberkörper hin und her, wie das viele Juden tun, wenn sie beten.
Im Gebet vereint
Landesbischof Frank Otfried July überreicht der Gemeinde seine Rede, Rabbiner Yehuda Pushkin schenkt dem Bischof ein hebräisches Gebetbuch, das dieser sichtlich bewegt durchblättert. Die Verabschiedung ist herzlich. Langsam, gemessenen Schrittes, macht sich die gesamte Versammlung wieder auf den Weg zurück zum Hospitalhof, wo viele Kirchenthemen warten, der Haushaltsplan der Landeskirche beispielsweise.
Landesbischof Frank Otfried July und Rabbiner Yehuda Pushkin sind sich einig.
© Foto: Werner Kuhnle
Aber jetzt ist das noch nicht wichtig. Die meisten schweigen auf dem Weg zurück, hängen noch ihren Gedanken nach. Vorbei geht es an den Polizei-Autos, um 11.40 Uhr sind alle wieder im Foyer des Hospitalhofs. Noch ist die Tagung unterbrochen, es geht zum verfrühten Mittagessen. Später, als die Beratungen wieder aufgenommen werden, sagt der stellvertretende Präsident Werner Stepanek, dass auch jetzt noch, zwei Stunden danach, das Erlebte nachklingt. „Es war eine schöne Begegnung – und wir sollten darauf achten, dass wir den Kontakt weiter intensiv pflegen.“ Nächster Punkt auf der Tagesordnung ist der Bericht von Kirchenrat Klaus Rieth über verfolgte Menschen, insbesondere Christen, weltweit. Auch er ruft dazu auf, mit den Menschen in Kontakt zu treten, ihnen praktisch und durch Zuspruch zu helfen und natürlich auch für sie zu beten.