Einen Gefallen tun sie ihrem Sohn damit allerdings nicht. Das ist zumindest die Haltung von Ulrike Bartholomäus. Die Wissenschaftsjournalistin hat sich zwei Jahre lang damit beschäftigt, warum nicht nur ihre eigene Tochter, sondern auch viele ihre Freunde so lange gebraucht haben, um in die Gänge zu kommen. „Wozu nach den Sternen greifen, wenn man auch chillen kann. Die große Orientierungslosigkeit nach der Schule“ hat sie ihr Buch betitelt.
Bartholomäus hat dafür viele Interviews mit jungen Leuten geführt, die ähnlich wie Lennart lange keinen Plan hatten, was sie nach der Schule mit sich und ihrem Leben anfangen sollen. Auch mit Psychiatern und Psychologen hat sie für ihr Buch gesprochen. Die gute Nachricht: Fast alle ihrer jungen Gesprächspartner haben nach einer langen Phase des Rumhängens, Rumreisens und Rumjobbens die Kurve bekommen. „Die meisten haben ihren Weg gefunden; manchmal durch eine zufällige Begegnung mit einem Menschen, der sie inspiriert; manchmal durch langes Warten und Suchen oder auch durch puren Zufall.“
Die schlechte Nachricht: Zu lange nichts zu tun, kann einen jungen Menschen aus der Spur bringen. Zu keinem Zeitpunkt ist die Gefahr, psychisch zu erkranken, höher als in der Jugend. So wird bei mehr jungen Menschen zwischen 18 und 25 Jahren eine psychische Störung diagnostiziert, sagt Dr. Gunter Joas, Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Esslingen. Das Erwachsenwerden zieht sich mittlerweile über einen sehr langen Zeitraum. Die „Emerging Adulthood“, so der Fachbegriff, reicht von 24 bis zu 30 Jahren.
Laut Joas war es noch nie so schwierig, sich vom den Eltern zu lösen wie heute. Gleichwohl ist dies notwendig, um eine eigene Identität, ein eigenes Wertesystem und eine Zukunftsorientierung zu entwickeln. Die Vielzahl der Möglichkeiten an Berufen und Studiengängen einerseits – 19.000 Studiengänge gibt es in Deutschland – und der hohe gesellschaftliche Anspruch an Leistung und Selbstverwirklichung andrerseits endet bei manchen der jungen Erwachsenen in Orientierungslosigkeit. Auch nach zahlreichen Praktika können sich die Schulabsolventen nicht entscheiden, ihre Entwicklung gerät ins Stocken, sie ziehen sich zurück, erleben depressive Einbrüche und sind leicht kränkbar, berichtet der Psychiater aus seiner Erfahrung mit jungen Patienten.
Auch wenn es schwer fällt, dem Kind beim Nichtstun zuzusehen: Bartholomäus rät den Eltern, keinesfalls in Aktionismus zu verfallen. Nachbohren ja, unbedingt sogar, auch wenn es nervt. Doch wer jetzt die eigenen Kontakte spielen lässt, um dem Sohn ein Praktikum zu verschaffen oder gar bei der Studienberatung vorprescht, um sich statt der Tochter beraten zu lassen, der tut seinem Kind langfristig keinen Gefallen.
Die Antriebslosigkeit stillschweigend zu akzeptieren, das ist ebenso der falsche Weg. Eltern sollten mit ihren Kindern einen Zeitpunkt fixieren, an dem das Chillen ein Ende hat, rät Bartholomäus. Denn das zu lange Verharren im Ruhe-Modus kann im schlimmsten Fall einer depressiven Erkrankung Vorschub leisten, ziemlich wahrscheinlich führt es jedoch zu einem Stillstand in der Identitätsentwicklung.
Die Persönlichkeit eines Menschen entwickelt sich im sozialen Kontext, im Kontakt mit anderen Menschen und im Handeln. „Beim Nichtstun passiert im Gehirn nicht nichts. Vielmehr baut der Jugendliche Nervenzellen ab“, so wird die Psychoanalytikerin Dorothea Ohle in dem Buch von Ulrike Bartholomäus zitiert. Ein Heranwachsender müsse nach dem Abitur nicht wissen, was er machen will, aber er muss irgendetwas tun. Denn in dieser Zeit ist das Gehirn so lernfähig wie nie mehr und braucht deshalb Impulse. „Vom In-den-Himmel-Schauen vernetzen sich keine Synapsen“, sagt die Psychiaterin Iris Hauth.
Auch Lennart hat mittlerweile die Kurve gekriegt. Er hat sich ins Zeug gelegt – und tatsächlich die Aufnahmeprüfung für das Kommunikationsdesign-Studium an der Kunsthochschule bestanden. Dass er das wollte, hat er seinen Eltern lange gar nicht erzählt. Erst als die Bewerbungsmappe mit eigenen Arbeiten schon halb fertig war, haben sie mitbekommen, dass ihr Sohn hinter seiner verschlossenen Zimmertür auch mal was anderes gemacht hat, als nur zu chillen.
Buch-Tipp
Ulrike Bartholomäus:
Piper Verlag 2019, 304 Seiten, 16,99 Euro.
ISBN 978-3-8270-1388-0.
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