Wie anders da Weizsäckers ruhige Worte im Bundestag. Kohl nahm man den Satz vom „Tag der Befreiung“ nicht ab. Weizsäcker schon. Denn er ließ ihn nicht einfach stehen. Er hob Gruppen hervor, die in der Erinnerungskultur zuvor kaum eine Rolle gespielt hatten – Sinti und Roma, Homosexuelle, Kommunisten. Er betonte die Rolle der Frauen beim Wiederaufbau, ging auf das Leid der Polen und Russen ein, aber auch auf das der Heimatvertriebenen. Und er bekannte: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ Die Ursache für Unfreiheit liege im Beginn der nationalsozialis-tischen Herrschaft.
Die Rede war ein weltweiter Erfolg. Sie wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, auch Hebräisch. Die „New York Times“ druckte sie vollständig ab. Kritik kam lediglich von Teilen der Union und der Vertriebenen (denen Weizsäcker zu weit ging) sowie Teilen der Grünen (denen er nicht weit genug ging).
Richard von Weizäcker - Miteinander leben, nicht gegeneinander
Als Weizsäcker am 31. Januar 2015 in Berlin starb, prägte seine Rede von 1985 die Nachrufe. Neben dem Satz vom „Tag der Befreiung“ vor allem der Aufruf an die jungen Menschen: „Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“
Im Mai 2020, kurz nach Weizsäckers 100. Geburtstag, jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Das nächste große Gedenken wird wohl am 8. Mai 2025 sein. Dann wird die Rede Weizsäckers genauso lange zurückliegen wie das Kriegsende zum Zeitpunkt, als sie gehalten wurde: 40 Jahre. Eine Zeitspanne, über die Weizsäcker in der Rede sagt, dass sich in ihr Hoffnung entwickeln kann, aber auch manches in Vergessenheit gerät.
Vor den Folgen dieses Vergessens warnt Weizsäcker. Mit seiner Rede, so lässt sich heute sagen, hat er gegen dieses Vergessen ein Leuchtfeuer der Erinnerung geschaffen.