Gemeinsam durch die Krise - Gegenseitige Hilfe
Viele Senioren sind alleine in ihrer Wohnung. Vor Corona. Während Corona. Nach Corona. Ich denke an sie. Und spüre, wie abhängig ich bin von der Hilfe anderer. Ich wohne alleine. Nie war das ein Problem. Jetzt schon.
Ich weiß noch nicht, ob ich nur eine Grippe oder starke Erkältung habe oder Corona. Falls es Corona ist, darf ich keine Türklinke im Treppenhaus anfassen, ich darf nicht in den Supermarkt. Doch irgendwann ist die Milch aus, der Hustensaft, das Duschgel. Und ja, auch das Klopapier. Wie froh ich bin, dass meine Nachbarn an mich denken und fragen, ob sie mir etwas mitbringen sollen. Auch Freunde tun das. Ich freue mich! Und merke: Ich versuche, möglichst wenig und wenig spezielles zu brauchen. Damit meine Helfer nicht so viel Zeit in meine Einkäufe stecken müssen. Als mein Handy sich meldet, habe ich die Nachricht meiner Nachbarin auf dem Display: „Schau vor deine Tür!“ Ich öffne und bin gerührt. Tatsächlich Klopapier!
Hilfsangebote in der Corona-Krise
Leider geht einen Tag später nochmal etwas Dringendes aus. Meine Nachbarn will ich nicht schon wieder fragen. Doch ich könnte ja das neue Onlineportal www.ulmhilft.de ausprobieren. Die Seite hat der 26-jährige Student Hannes Metzger geschaffen, als Corona anfing, unseren Alltag in Beschlag zu nehmen. Innerhalb von ein paar Wochen haben sich mehr als 700 Personen aus Ulm gemeldet, die anbieten, für jemand Fremden einkaufen zu gehen, Hunde Gassi zu führen, Dinge zu teilen, auf die Kinder aufzupassen – oder: einfach nur miteinander zu telefonieren. Da nicht jeder, der Hilfe braucht, im Internet schaut, hat Hannes Metzger einen Flyer auf die Seite gestellt, den Helfer ausdrucken und draußen aufhängen können.
Auch in meiner Nachbarschaft entdecke ich vier Angebote. Soll ich? Ich kann nun Senioren gut verstehen, die Hilfsangebote ablehnen, mit Ach und Krach versuchen, lieber auf etwas zu verzichten oder es selbst hinzubekommen. Man fühlt sich bittstellerisch. Und denkt: Jemand anders braucht die Hilfe dringender als ich.
Doch ich tu’s. Und bin neugierig. Ich melde mich bei Pia. Mit ihrer Reaktion hatte ich nicht gerechnet: Pia ist völlig aus dem Häuschen. Endlich melde sich mal jemand auf ihr Angebot. Liebend gerne würde sie für mich etwas besorgen. Auch gerne nicht nur einmal. Pia erzählt, sie habe gerade mehr Zeit, weil sie als Lehrerin zuhause arbeite. Es dauert nicht lang, dann steht sie schon mit ihrer Lieferung vor meiner Tür.
Lange war Nachbarschaft nicht mehr so wichtig wie in dieser Krisenzeit. Da gibt es Aufrufe in der Krise die Geschäfte im eigenen Viertel zu unterstützen – mit Bestellungen, Spenden oder Gutscheinen, die man später einlöst. Menschen hängen Taschen mit Lebensmitteln oder Hygi-eneartikeln für Bedürftige an Zäune, die in manchen Städten mittlerweile einen eigenen Namen haben: Gabenzäune. Etliche Plattformen sprießen, die Menschen in diesen Zeiten miteinander verbinden.
Von diesem Sog der Nachbarschaft profitiert das Nachbarschaftsportal www.nebenan.de. Das gibt es schon seit 2015. Christian Vollmann hat es gegründet, um Menschen in Gebieten zu vernetzen, die kleiner sind als der eigene Postleitzahlenbereich. Seinen Erfolg erklärt er sich so: Heute sei vielen Menschen Gemeinschaft zwar wichtig, „aber ohne Verpflichtungen. Sie wollen sich lieber spontan engagieren“.
Heute sind 1,6 Millionen Nachbarn auf nebenan. de vernetzt. Die aktivste Nachbarschaft in Ulm ist die Altstadt mit 470 Nutzern. Auch in meiner Ulmer nebenan.de-Nachbarschaft geht es ziemlich rege zu, wie ich festgestellt habe, als ich mich auf der Plattform vor einiger Zeit registrierte. Ilona schreibt: „Hallo Nachbarn, ich möchte einen Metalldetektor leihen, um meinen verlorenen Ehering zu suchen.“ Sarah braucht eine Wasserwaage, Adela fragt nach Zeugen eines Unfallflüchtigen, der in das Auto ihres Freundes geradelt ist. Jürgen offeriert Mathenachhilfe und Ingeborg will für 100 Euro ihr Klavier loswerden. Auch Klempner, Bandgitarristen und Gemeinschaftsgärtner sind gefragt.
Die Krise schweißt zusammen
Ich habe jemanden gesucht, der mir hilft, meine Lampen zu montieren. Philipp, von ein paar Straßen weiter und mir bis dato unbekannt, ist gekommen und hat die Lampen an die Decke geschraubt.
In der Corona-Krise ist zu beobachten: Bei vielen ist die Sehnsucht groß, mit den Nachbarn in Kontakt zu kommen, ein Schwätzchen im Treppenhaus oder über den Gartenzaun zu halten. Vielleicht weil man sich als Schicksalsgemeinschaft sieht? Weil über, unter, neben einem die Homeoffice-Arbeitsplätze eingerichtet wurden? Ganz am Anfang der Krise mailte mir der Nachbar von ganz unten: „Wir sind jetzt ein Bürokomplex!“ Über mir der Lehrer, unter mir sein IT-Büro, ich die Journalistin … Man tauscht sich aus in und über diese merkwürdige Zeit. Nähe ist wieder anziehend.
Und ich freue mich vor allem wieder, dass ich gesund bin. Und erfahren durfte: Wenn es drauf ankommt, sind da hilfsbereite Menschen. Ich bin nicht verhungert, nicht verdurstet und habe mich über jede Einkaufslieferung gefreut.
Nachbarschaftshilfe, Einkaufshilfe, Elektriker, Corona. Fotos: Isabella Hafner