Die folgende Stimmungswende fühlt sich an wie bei kleinen Kindern, deren Begeisterung sich urplötzlich verändern kann von Faszination zu Erschrecken. Bei den Hirten ist es allerdings umgekehrt: Aus großer Verzweiflung wird urplötzlich große Freude. Weil Gott selbst durch den Engel hindurch spricht, ist es kein nettes Werbegespräch wie bei einem Staubsaugervertreter.
Der Engel berichtet nicht nur über die „große Freude“, er bewirkt sie zugleich. Sein Reden ist nicht nur informierendes, sondern schöpferisches Wort Gottes. Dieses Wort tut, was es sagt. Die Hirten erleben mitten in der Nacht die lebendig machende Kraft des Evangeliums. Die darin wohnende „große Freude“ hat ihren Ausgangspunkt bei Gott im Himmel und kommt durch das Evangelium zu den Menschen „auf Erden“.
Um zu verstehen, welche beflügelnde Unruhe sich auf dem Hirtenfeld damals ereignet hat, hilft es, sich deutlich zu machen, woher das Wort „Evangelium“ ursprünglich stammt. Es wurde nicht erst für das Neue Testament „erfunden“. Der Begriff stammt aus der griechischen Militärsprache. Wenn die antiken griechischen Stadtstaaten gegeneinander Krieg führten, waren sie wenigstens so vernünftig, die Entscheidungsschlacht nicht innerhalb der Stadtmauern in zermürbendem Häuserkampf zu führen. Es gab vielmehr die militärische Tradition, dass sich beide Heere weit vor den Toren der Stadt auf einem Schlachtfeld trafen, um dort den Kampf auszufechten. Siegten nun die angreifenden Truppen, mussten die Unterlegenen ihre Stadttore öffnen.
Boten des Evangeliums
Die Eroberung brachte dann Schlimmes mit sich. Menschen wurden geplagt, versklavt und getötet. Schwere Angst lag deshalb während der ganzen Schlacht wie ein Todesschatten über der bedrohten Stadt. War der Ausgang nun aber positiv, haben die Verteidiger die Angreifer in die Flucht geschlagen, so wurde sofort vom Kriegsschauplatz aus ein „Läufer“ losgeschickt. Er sollte schnellstmöglich die freudige Siegesnachricht zu den Bürgern der Stadt tragen. Diesen Läufer nannte man den „Boten des Evangeliums“.
Wie der Engel auf dem Hirtenfeld hat auch er den Menschen in der Stadt „Friede auf Erden“ verkündet und damit deutlich gemacht, dass sie Zukunft und Leben haben. Diese frohe Botschaft wirkte auf die Hörer wie das Entkorken einer Flasche Sekt. Der Druck schwerer Tage hat sich in überschäumender Freude entladen. Aus ihren Kellern der Angst sind die Bürger heraus auf die Straßen gelaufen und haben ihrer Freude freien Lauf gelassen im Jubel von Liedern und Tänzen.
So ähnlich war das bei den Hirten der Heiligen Nacht. Als die Engel wieder verschwunden waren, sind die vorher noch so verschlafenen und dann schockierten Hirten plötzlich hellwach begeistert nach Bethlehem gelaufen. Und als sie im Stall das verkündigte Jesuskind hatten liegen sehen, „kehrten sie wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten“ (Lukas 2,20). Sie waren voll großer Freude.
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Lieder und Hymnen
Es ist auffällig, dass die biblische Weihnachtsgeschichte von Hymnen und Liedern durchzogen ist. Es singt und klingt rund ums Christkind herum. An Weihnachten überschreitet der ewige Gott die Grenze zu uns sterblichen Menschen und schenkt uns Anteil am himmlischen Frieden. Die Angesprochenen antworten auf diese göttliche Grenzüberschreitung mit einer stimmlichen Grenzüberschreitung. Im Singen wird der Tonumfang des reinen Sprechens weit überschritten. Aus der Enge der Hoffnungslosigkeit führt uns die Freude in die Weite der Freiheit. Das Sterbliche ist „durchschritten“. Der Tod hat seine Macht verloren. Durch Jesu Geburt haben wir Leben und Zukunft.
Gute Botschaft
Darum singt die Christenheit bis zum heutigen Tag fröhliche Weihnachtslieder. Das Evangelium kann nicht nur nüchtern und distanziert zur Kenntnis genommen werden. Es hat befreiende, existentielle Bedeutung. Es geht in Mark und Bein und in Noten und Klang. Martin Luther sagt: „Das Evangelion ist ein griechisch‘ Wort und heißt auf Deutsch gute Botschaft, gute Mär‘, gute Neuzeitung, gut Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist.“
Aber wie ist es während solcher trüben Corona-Zeiten, so wie bei uns jetzt? „Singen verboten“ heißt es auch in diesem Jahr wieder in vielen Gottesdiensten. Können wir trotzdem „große Freude“ erleben? Die Hirten, die zuerst noch fröhlich an der Krippe standen, mussten bald wieder zurück in die dunkle Nacht ihres Alltags. Auch nach diesem besonderen Engelerlebnis haben sie nicht viel vom „Frieden auf Erden“ gespürt, der ihnen verkündet wurde. Dennoch waren sie froh, weil sie wussten: Gott ist jetzt auf der Welt. Wir sind nicht allein. Er wird wachsen und kommen und unsere Not am Ende in Herrlichkeit verwandeln. Darum: Singt das Lied der Freude über Gott – auch wenn es dieses Mal nicht in gut besuchten Gottesdiensten möglich sein wird. Große Freude kann man auch im kleinen Kreis miteinander teilen.
◼ Rainer Köpf ist Pfarrer in Beutelsbach.