Mika Kienbergers erster Besuch bei Samantha Raabe fand noch im Frauenhaus statt. Dort hatte die junge Frau Zuflucht vor ihrem gewalttätigen Ex-Freund gesucht. Von ihrer Mutter hat sie keine Unterstützung bekommen: „Die hat mich mit 20 rausgeworfen. Danach bin ich an falsche Freunde geraten und war drei Jahre lang kokainsüchtig“, erzählt sie kurz und knapp.
Den dramatischen Schlusspunkt ihrer Drogenkarriere setzte ein Schlaganfall vor vier Jahren. Seitdem hat sie keine Drogen mehr angerührt. Mika Kienberger hat beim ersten Besuch schnell begriffen, dass Samantha Raabe die Gewalttat ihres Ex-Freundes noch nicht verarbeitet hat. Ihre Angst hat die mütterlichen Beschützerinstinkte ins Übermaß wachsen lassen: Es gab Zeiten, da konnte sie nicht einmal zulassen, dass Luan zwei Meter entfernt von ihr war. Selbst beim Duschen hat sie ihn mit unter die Brause genommen. Mika Kienberger konnte ihr bei den vielen Besuchen verständlich machen, dass ihr kleiner Junge Freiräume für die Entwicklung braucht, dass er sich robbend, später krabbelnd ruhig von ihr wegbewegen darf. Auch wie sie Luans Anspannung mit sanften Handgriffen lösen kann, hat ihr Mika Kienberger gezeigt. „Frau Raabe hat alles sehr schnell umgesetzt, was ich ihr gesagt habe. Ich habe bei jedem Besuch wahrgenommen, welche Fortschritte sie gemacht hat“, erzählt Mika Kienberger. „Wir schieben nur an, dass es besser läuft im Umgang mit dem Kind. Aber tun müssen es die Mütter schon selbst.“
"Frühe Hilfe" - Angebot, nicht vom Jugendamt verordnet
Das Kompliment gibt Samantha Raabe auf ihre Art zurück: „Ich bin froh, dass ich Frau Kienberger in mein Leben gelassen habe.“ Was für sie nicht selbstverständlich war: Auf alles, was nur im Entferntesten an Bevormundung und amtliche Eingaben erinnert, reagiert Samantha Raabe allergisch. Die „Frühen Hilfen“ sind aber kein vom Jugendamt verordnetes Angebot.
Die Beraterinnen kommen nur auf Anfrage in die Wohnung. Mika Kienberger agiert professionell und nie von oben herab. Sie ist einfühlsam, klar in ihren Aussagen, würde aber nie die Augenbraue hochziehen, weil sie etwas zum vierten Mal wiederholen muss. Samantha Raabe hat schnell Vertrauen zu ihr gefasst. „Möglicherweise hat es auch eine Rolle gespielt, dass ich tätowiert bin – genau wie sie“, kann sich Mika Kienberger vorstellen. Manchmal helfen Äußerlichkeiten.
Gut im Gespräch: Samantha Raabe (links) und Mika Kienberger, die Familienkrankenschwester von den „Frühen Hilfen“. Foto: eva/ Martin Stollberg
Das Angebot der „Frühen Hilfen“ gibt es in dieser Form nur in Stuttgart. In der Regel erfahren die Mütter von der kostenlosen Unterstützung auf der Geburtsstation und können sich danach dann bei der Caritas oder der eva melden. Die beiden Anbieter haben sich die Stadtteile in Stuttgart aufgeteilt. Bis zu 15 Stunden, auf Antrag auch länger, können Kienberger und ihre Kolleginnen die Mütter bei Hausbesuchen begleiten.
Am Anfang gleichen sich die Fragen unabhängig von der sozialen Schicht
„Wir ersetzen keine Hebamme. Aber wir arbeiten mit den Müttern daran, die Weichen richtig zu stellen, damit es später gut läuft“, beschreibt Kienberger ihren Ansatz. Rund 250 Klientinnen haben die Mitarbeiterinnen der eva im vergangenen Jahr betreut. 2018 waren es 200. „Die Unsicherheit im Umgang mit Neugeborenen ist größer geworden“, stellt Mika Kienberger fest. Oft geht es bei den Hausbesuchen um die vier S: stillen, schlafen, Stuhlgang, schreien. „Im Gegensatz zu einer Hebamme bringen wir Zeit mit und können eine Stunde bleiben, um Fragen in aller Ausführlichkeit zu beantworten.“
Wie groß der Bedarf an Beratung ist, hat nichts mit der sozialen Schicht zu tun. „Am Anfang haben alle dieselben Fragen.“ Mika Kienberger erinnert sich an eine gut situierte junge Frau, die als Controllerin gearbeitet hat und sich sehr auf ihr Kind gefreut hat. „Mit einem Baby kann man aber nichts mehr kontrollieren. Das hat sie in große seelische Not gebracht.“ Die Angst ums Baby wurde übergroß. Einer solchen Mutter Zutrauen zu vermitteln, ihr zu zeigen, wie ihr Kind wächst und gedeiht, ist da viel wert.
Zuhören, nach Ideen suchen, was Entlastung bringen könnte, Angebote im Stadtteil aufzeigen oder schüchterne Mütter beim ersten Gang in die Krabbelgruppe begleiten, all das gehört zu Kienbergers Aufgaben. Derzeit ist sie mehr an der frischen Luft als sonst üblich. In Zeiten von Corona sind Hausbesuche nicht geboten. Aber mit dem nötigen Abstand können Beratungsgespräche auch beim Spazierengehen geführt werden, ansonsten gibt es Telefonate oder Skype-Anrufe.
Samantha Raabe braucht keine Unterstützung mehr. Sie leistet jetzt selbst welche: Immer wieder berichtet sie im Frauenhaus von ihrer Geschichte und macht mit ihrer Stärke anderen Mut.
◼ Team Familienunterstützung, Telefon 0711-2054203, Internet: www.stuttgart.de/familien/fruehe-hilfen