Zeitzeugen erreichen Schüler sehr direkt. Sie werden aber immer weniger. Was bedeutet das für die Gedenkstättenarbeit?
Sibylle Thelen: Die Zeitzeugen verstummen. Jeder Tod ist ein Abschied. Das gilt besonders für die Aktiven an Gedenkstätten, die bereits Kontakte zu Überlebenden aufgebaut haben, als sich in Deutschland kaum jemand sonst für die Opfer der NS-Diktatur interessierte. Die Gedenkstätten tun viel dafür, das Erbe der Zeitzeugen zu sichern. Sie forschen und archivieren, haben Biographien oder auch Film- und Tonaufnahmen angefertigt. Mit diesem Material lässt sich in der Vermittlung arbeiten. Das ist wichtig, denn die Schüler haben keine Angehörigen mehr, die aus eigenem Erleben von der NS-Zeit berichten können.
Heute wachsen Schüler mit digitalen Medien auf. Wie attraktiv ist eine Ausstellung ohne Touchscreen?
Sibylle Thelen: An vielen Gedenkstätten spielt die multimediale Aufbereitung eine große Rolle. In Ausstellungen ermöglicht sie die Vertiefung von Informationen und aktiviert Besucher. Ein Medientisch etwa, an dem sich Dokumente abrufen lassen, lädt zum Recherchieren ein. Vielerorts lassen sich Ton- oder Filmaufnahmen von Zeitzeugen abrufen. Das vermittelt einen Eindruck von Authentizität.
Aber solche multimedialen Ausstellungen sind aufwendig.
Sibylle Thelen: Ja, aber sie werden in der Vermittlungsarbeit genutzt. Sie unterstützen selbsterkundendes Lernen und kommen den Seh- und Anwendungsgewohnheiten der nachwachsenden Generation entgegen. Dieser Entwicklung entziehen sich die Gedenkstätten nicht. Das lässt sich an Orten beobachten, an denen bereits die zweite Generation von Ausstellungen zu sehen ist. Dort wird übrigens auch die so genannte zweite Geschichte des Nationalsozialismus nachgezeichnet: die Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach 1945, die sehr langsam, gegen viele Widerstände einsetzte.
Fällt Ihnen ein Beispiel ein, wo die multimediale Ausstellungsform und die Aufbereitung der Geschichte nach 1945 besonders gelungen ist?
Sibylle Thelen: Die Themensetzung geht sogar darüber hinaus. Ein gutes Beispiel ist die Wanderausstellung „Das wird man wohl noch sagen dürfen“, die vom Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg in Ulm erarbeitet worden ist. Es geht um demokratiefeindliche Sprache. Begriffe aus Quellen der 1920er und 30er-Jahren werden aktuellen Begriffen aus Hassreden von heute gegenübergestellt, die im Internet kursieren.
Was muss eine Gedenkstätte heute an pädagogischer Arbeit bieten?
Sibylle Thelen: Die klassische Führung allein genügt nicht mehr. Gefragt sind Seminare, Workshops, Kunstprojekte oder selbsterkundendes Lernen. Dafür gibt es gute Beispiele: Man gibt den Schülern einen Koffer mit Materialien an die Hand, mit Hilfe derer sie sich die Ausstellung selbst erarbeiten.
Also kein Frontalunterricht?
Sibylle Thelen: Genau. Aber natürlich ist jemand in der Nähe, um bei Bedarf Unterstützung zu geben.
Ein neues Konzept in der Gedenkstättenarbeit sind Jugendguides, also Jugendliche, die Gleichaltrige führen. Aber haben Jugendliche überhaupt das Wissen und die Kompetenz für eine solche Aufgabe?
Sibylle Thelen: Diese Jugendguides oder Jugendbegleiter werden qualifiziert und an ihre Aufgabe herangeführt. Sie bekommen Informationen, Materialien und Methoden an die Hand, um im Sinne der Peer-Education, also der Bildung durch Gleichaltrige, Führungen zu gestalten.
Warum setzen Sie auf die Jugend als Vermittler?
Sibylle Thelen: Es ist etwas anderes, von Gleichaltrigen oder Jugendlichen, die nur einige Jahre älter sind, in die Thematik eingeführt zu werden. Die Guides sind näher dran an den Jugendlichen. Sie können anders nachempfinden, was diese Altersgruppe interessiert und umtreibt.
Was braucht es, um die Erinnerung wach zu halten?
Sibylle Thelen: Der authentische Ort spricht nicht, er muss lesbar gemacht werden. Dazu braucht es Menschen, die über die Geschichte Bescheid wissen. Diese Bürgerinnen und Bürger, die die Erinnerung wachhalten, leisten einen wichtigen Beitrag. Aus dieser Haltung sind die Gedenkstätten entstanden, sie haben die Geschichte vor Ort offensiv aufgearbeitet. Dabei haben sie einen wichtigen Beitrag für die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik geleistet. Wenn der Wunsch zur Erinnerung aus der Gesellschaft heraus kommt, hat er eine andere Bedeutung, als wenn er von oben aufgesetzt wird. In einer solchen Auseinandersetzung werden auch aktuelle Bezüge hergestellt. Das lässt sich nicht verordnen. Auch die Jugendlichen bringen aktuelle Fragen an die Gedenkstätten mit. An einem Ort, der für jüdisches Leben vor dem Holocaust steht, wird es immer um den Holocaust gehen. Aber es drängt sich auch grundsätzlich die Frage auf, welche Mechanismen in Gesellschaften, auch in unserer heute, zur Ausgrenzung führen.