Im dänischen Hirtshals gingen wir auf die Fähre. Es zog teuflisch. Der kalte Wind des Nordens. Nach vier Stunden waren wir im gelobten Land: Norwegen. Von nun an würden wir die Natur genießen, frei sein, Abenteuer erleben, den deutschen Alltag hinter uns lassen.
An einem einsamen See schlugen wir unsere Zelte auf. Wildes Campen, in Norwegen war das erlaubt. Außer uns keine Menschenseele. Dafür mehrere Hundertschaften von Stechmücken, die nun zum Angriff bliesen. Fred, der Mercedes-Busfahrer, setzte gerade zur Andacht an. Nach ein paar Sätzen zog er das Mückennetz über den Kopf. Er sah nun aus wie ein Imker.
Nach ein paar weiteren Worten kapitulierte er. Seine Zuhörerschaft hatte sich längst in die Zelte verzogen. Fred und die Moskitos waren ganz alleine. Im besten Falle traten sie danach geschlossen zum christlichen Glauben über. Es sollte die vorläufig letzte Andacht in den Abendstunden sein. Fortan wurde tagsüber gepredigt.
Es war ganz erstaunlich, wer alles auf die Reise mitgekommen war. Langjährige Jugendwerker, Menschen mit christlichem Hintergrund, aber auch solche, die fast nie in die Kirche gingen. Drei Wochen Norwegen zu einem unschlagbar günstigen Preis, das zog.
Einmal bestiegen wir einen Berg. Den Predigtstuhl. Ein passendes Ziel für eine christliche Jugendgruppe. Die Aussicht auf den Fjörd darunter war göttlich, zitternd robbten wir bis an den Abgrund heran. Die Landschaft nahm uns gefangen, das Wetter war so viel besser als alle es prophezeit hatten: Sonne, Sonne und immer wieder Sonne.
Wir gewöhnten uns an die Mücken. Stellten zu unserem Erstaunen fest, dass sie nicht überall gleich präsent waren. Fred nahm irgendwann das Imker-Netz ab und hielt nach dem Abendessen eine neue Andacht. Anrührende Worte, die mit einem schönen Gebet endeten. Diesmal hörten alle zu, sogar Paul, der ansonsten eigentlich nichts mit biblischen Botschaften am Hut hatte.
Es gab viel zu lachen. Auch Ralf, der Boss, war zu allerlei Schabernack bereit. Ein riesiger Felsblock am Ufer eines Sees sollte im Wasser versenkt werden. Mit Stemmeisen aus sämtlichen Fahrzeugen gingen wir ans Werk. Heiner, der Handwerker, entwarf mit Peter Pläne für eine Sprengung. Nach zwei Stunden gaben alle auf und hüpften ins Wasser. Vermutlich liegt das Ungetüm noch heute an Ort und Stelle.
Norwegen. Fjorde. Seen. Predigtstuhl. Foto: Andreas Steidel
Wir wuchsen zusammen, gaben uns Spitznamen. Ich hieß irgendwann „Spion“, weil ich eine dunkle Sonnenbrille trug. Noch Jahre später sollten mich Mitreisende so ansprechen, wenn sie mich auf der Straße trafen. „Hallo Spion, wie geht’s?“
So manchen berührten die Gebete
Wir fraßen nur so die Kilometer. Die Distanzen waren unendlich und die VW-Busse ächzten, wenn sie mal wieder eine Steigung erklimmen mussten. Das Gepäck, die Leute, Tonnen von Nudeln und Reis. Wir streiften die Städte Bergen und Oslo und wechselten dann nach Schweden über.
Leider ging mit der Reise auch das gute Wetter zu Ende. Ausgerechnet am letzten Tag schüttete es wie aus Kübeln. Die Campingplätze waren überschwemmt und die Truppe ratlos, wie man den Abschied gestalten sollte. Da sprach Ralf ein letztes Machtwort. Fred, der schon seit einiger Zeit in der Nähe von Hamburg wohnte, sollte für uns seine Drei-Zimmer-Wohnung öffnen. Er schluckte nur kurz und schloss auf. Dank der Mithilfe seines Nachbarn kamen 30 junge Erwachsene in zwei Hochhaus-Apartments unter.
Die Agape-Feier in Freds Wohnzimmer werde ich nicht vergessen. Jeder hatte etwa 80 Quadratzentimeter Standfläche. Irgendwo zwischendrin las jemand aus der Bibel. 38 Jahre vor Corona konnten wir mit dem Begriff Abstandsregel noch nichts anfangen.
Gitarre spielen habe ich übrigens tatsächlich gelernt und nun fast feuchte Augen bekommen, als ich die alten Bilder wiederfand. Schnappschüsse mit der Pocketkamera, alle leicht gelbstichig.
Fred mit dem Imkernetz ist darauf gut zu sehen und der grüne VW-Bus natürlich auch. Bilder aus einer anderen Zeit, in der wir alle so unendlich jung waren.