Bei einem drohenden Unfall etwa, wenn wir am Steuer sitzen und uns ein Auto frontal entgegenkommt, schlägt das Gehirn Alarm. Der Körper schüttet Stresshormone aus, der Blutdruck steigt, das Herz schlägt schneller, die Atmung beschleunigt sich. Der Fett-, Zucker- und Proteinumsatz des Körpers wird erhöht. In Sekundenbruchteilen wird die Situation vom Gehirn analysiert und mit bisherigen Erfahrungswerten abgeglichen. Und wenn alles gut läuft, reicht der Schutzmechanismus aus, um schnell und angemessen zu reagieren – und den Wagen aus der Gefahrenzone zu lenken.
„Angst motiviert zu handeln, gesunde Angst führt zur Vorsicht“, beschreibt es Christian Weindel von der Psychologischen Beratungsstelle des Evangelischen Kirchenkreises Stuttgart. Die Schutzfunktion ist allerdings nicht mehr vorhanden, wenn das Angsterlebnis sich auf Bereiche ausbreitet, die gar nicht gefährlich sind. „Das führt dann zur Einengung. Betroffene vermeiden solche Situationen und werden dadurch in ihrer Lebensführung beeinträchtigt“, sagt der Sozialtherapeut und Diakon. Menschen, die einen Autounfall erlebt haben, möchten sich dann nicht wieder auf die Straße begeben.
Edward Munchs Gemälde „Der Schrei“ gilt als bildliches Symbol für die Angst. Foto: picture-alliance/ akg-images/ Erich Lessing
Doch auch nach langanhaltenden Stresssituationen, etwa aus einer dauernden Überforderung oder unterdrückten Wut heraus, kann sich eine allgemeine Angststörung entwickeln, bei der Betroffene unter ständiger Anspannung stehen.
Der Körper ist in andauernder Erwartungshaltung, der Gedanke „Was wird passieren?“ führt zu einer chronischen Unsicherheit. Menschen, die darunter leiden, sind davon überzeugt, dass die Furcht berechtigt ist – egal, ob die Gefahr real existiert oder nur ein Ergebnis von Gedankenspielen ist. Die Angst sitzt im Inneren und wird nach außen projiziert.
Betroffene versuchen daher, die Kontrolle zurückzugewinnen – im Extremfall glauben sie, alles im Griff haben zu müssen. Ein Lösungsversuch, der jedoch zum Scheitern verurteilt ist, wie der Hirnforscher und Neurobiologe Gerald Hüther bestätigt. Denn: „Nicht alle Unwägbarkeiten auf der Welt lassen sich mit einer bestimmten Strategie lösen.“
Viele Ängste, die die Menschen haben, beruhten auf alten Vorstellungen. Doch da sich die Umstände permanent ändern, muss der Mensch lernen, damit umzugehen. „Es geht darum, das Leben, so wie es ist, anzunehmen.“
Angststörungen - Besser im Hier und Jetzt leben
Und wie kann das gelingen? Was konkret hilft gegen die Angst? Bei traumatischen Erfahrungen oder Angststörungen kann eine Verhaltenstherapie unterstützend wirken, sagt Christian Weindel. „Man lernt dabei, sich der jeweiligen Situation zu stellen. So macht das Gehirn neue korrigierende Erfahrungen, nämlich, dass die Situation nicht gefährlich sein muss.“ Man lernt zum Beispiel, dass Autofahren nicht automatisch zu einer lebensbedrohlichen Situation führt.
Professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen ist also ein Weg. Zumal es gut tut, darüber zu sprechen. Doch es gibt auch kurzfristige Möglichkeiten, sich aus einem Angstgefühl zu befreien. „Bewegung wirkt der Furcht entgegen, dabei lösen sich die Stresshormone aus der Muskulatur und werden so aus dem Körper herausgeschwemmt“, sagt Weindel. Spazieren zu gehen oder Sport zu treiben kann also helfen, aus der Angstspirale herauszukommen.
Christian Weindel. Foto: Pressebild
Achtsamkeitstraining ist ebenfalls ein wirksames Gegenmittel. „Man konzentriert sich auf etwas Konkretes, etwa einen bestimmten Geruch, um die Aufmerksamkeit vom beschleunigten Herzschlag abzulenken.“ Ebenso wirksam könne zum Beispiel ein scharfes Bonbon sein, das einen neuen Sinnesreiz setzt. „So ist das Gehirn abgelenkt.“
Das gelingt auch mit Methoden wie der progressiven Muskelentspannung, bei der Entspannung durch Anspannung entsteht. Zumal chronische Angst ein Gefühl ist, das meist mit der Zukunft zu tun hat. Wer versucht, im Hier und Jetzt zu leben, konzentriert sich ganz auf die Gegenwart und beschäftigt sich nicht damit, was künftig alles Schlimmes passieren könnte.
Angst, das steht jedenfalls fest, ist ein machtvolles und dunkles Gefühl, das den Menschen in seinem Tun und seiner Freiheit einengt.
Anders als Empfindungen wie Urvertrauen oder Liebe, die sich frei, weit, hell und warm anfühlen. Gerald Hüther sieht daher als Gegenspieler der Angst die Liebe. „Wenn man es nicht schafft, mit sich selbst liebevoll umzugehen, gelingt es nicht, ein Leben zu führen, wo man im Hier und Jetzt glücklich ist.“
Der 70-Jährige fordert, Angst als einen „liebevollen und hilfreichen Begleiter“ zu sehen, als „etwas, das zum Leben dazu gehört“.
Wer Vertrauen in sich selbst und das Leben hat, glaubt auch daran, unangenehme Situationen oder Gefahren durchstehen zu können. Dabei hilft es, jemanden zu haben, auf den man sich verlassen, Werte und Bindungen, auf die man vertrauen kann. Zwischenmenschliche Beziehungen, Gefühle wie Zuneigung und Mitgefühl sind stärkend. „Je sicherer sich jemand fühlt, desto eher kann er mit angstvollen Situationen umgehen“, sagt Christian Weindel.
Die Unsicherheit anzunehmen, die das Leben in sich trägt, ist ein wichtiger Schritt, um ständiger Sorge entgegenzuwirken. Gerald Hüther wirft in seinem Buch „Wege aus der Angst“ auch einen globalen Blick auf eine Welt, die von vielen Soziologen als zunehmend angstbesetzt bezeichnet wird. „Wir haben Vertrauensressourcen verloren“, so seine These.
Früher hätten Märchen, Mythen, Sagen und die Religionen ein Vertrauen darin entwickelt, „dass bei Problemen im Leben es wieder gut wird“. Das gehe in der heutigen Gesellschaft, wo „Konkurrenz und Wettbewerb die Triebfedern eines guten Lebens sind“, zunehmend verloren. Dementsprechend ließen sich viele Menschen leicht von angstschürenden Ideologien beherrschen.
Fest steht: Gefühle wie Angst können auch manipuliert werden. Eine Tatsache, der sich etwa die Werbeindustrie bedient. Dass der Schuss dabei nach hinten losgehen kann, zeigt das Beispiel eines Reifenherstellers in den 70er-Jahren: Die Firma wollte in einer Zeit, als das Thema Aquaplaning diskutiert und gefürchtet wurde, den Verkauf seiner Produkte mit einem besonderen Werbespot ankurbeln. Dieser zeigt, in beklemmender Atmosphäre, eine riesenhafte Geisterhand, deren To-desklauen sich über eine Straße erstreckt. Der dazugehörige Text: „Wenn du unseren Reifen nimmst, bist du gerettet.“
Doch die Firma erlebte ein Desaster mit der Reklame und musste sie absetzen. Der Grund: Angstgefühle lassen sich nicht steuern, sie sorgen für Fluchtgedanken. Und so richtete sich die Furcht des Verbrauchers am Ende gegen den Angstmacher selbst. Angstmanipulation bleibt unberechenbar, nicht nur in ihrer Zielrichtung, auch in ihrem Ausmaß.
Gerald Hüther. Autor. Neurobiologe. Hirnforscher. Foto: Pressebild
Nach Gerald Hüthers Ansicht kann Angst nur jemand bekommen, „der nicht weiß, was zu tun ist“. Als Beispiel nennt er den Feuerwehrmann, der schon hunderte Brände gelöscht hat und sich sicher ist, was er tun muss, um nicht selbst in Gefahr zu geraten. Was den Menschen Furcht macht, ist also nicht das Erleben einer Bedrohung, sondern das Gefühl, ihr hilflos ausgeliefert zu sein. „Angst wird nicht durch etwas ausgelöst, das von außen kommt und auf uns einwirkt, sondern durch etwas, das wir in uns tragen“, davon ist Gerald Hüther überzeugt. Um sich gegen Bedrohungen von außen zu schützen, tendieren Menschen unter Angst dazu, diese so früh wie möglich zu erkennen. „Sie bauen Wachtürme, richten Messstellen und Überwachungskameras ein, machen Prognosen und erstellen Statistiken. Manche versuchen es auch mit Astrologie oder beim Wahrsager.“ Die Vorstellung, keine geeigneten Mittel und Instrumente zur Verfügung zu haben, um eine Gefährdung abzuwehren, verschafft ein großes Gefühl von Unsicherheit.
Gerald Hüther fordert die Menschen dazu auf, selbst Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört für ihn, Grundbedürfnisse nach Freiheit und Autonomie, nach Verbundenheit und Geborgenheit, wiederzuentdecken und ihnen zu folgen. „Angst können wir nicht überwinden, indem wir versuchen, alles noch besser in den Griff zu bekommen.“ Denn dadurch macht sich der Mensch noch mehr zu einem Getriebenen.
Viel nachhaltiger ist demnach, wenn der Einzelne sein Leben, mit all den Unwägbarkeiten und Risiken, als Geschenk annimmt, sich darüber freut, was es bereithält. Wenn jeder liebevoll mit sich selbst umgeht, darauf achtet, was einem selbst und anderen guttut. „Dann“, sagt Gerald Hüther, „ist für Angst machende Vorstellungen kein Platz mehr im Gehirn.“