Natalie Henkel hat oft mit Gott gesprochen in jenen Tagen. Geschrien, geschimpft, ist mit ihm laut geworden. „Das hat mir Kraft gegeben, das Gefühl, nicht allein zu sein, auch in den einsamen Stunden zu spüren, dass jemand da ist“, erinnert sie sich. Geglaubt hat sie schon immer, doch nun bekommt alles eine ganz existenzielle Bedeutung.
Auch ihre Familie ist immer für sie da. Vater, Mutter, der große Bruder. Zu ihnen geht sie zurück, ins Haus nach Dettingen an der Erms am Fuße des Albtraufs. Auf dem Weg in die Selbstständigkeit braucht sie Hilfe. Sie hat Schmerzen, kann manchmal nicht fassen, wie immobil sie ist. Doch sie gibt nie auf.
In der elterlichen Wohnung darf Natalie neben der Mutter im Schlafzimmer liegen, der Vater macht vorübergehend Platz. Jeder tut alles, damit Natalie wieder Hoffnung schöpfen kann. Es ist rührend und erschütternd zugleich.
Natalie Henkel, die Kämpferin: Ganz allmählich steht sie aus dem Rollstuhl wieder auf. Fotos: Privat
Ganz langsam wird es besser. Natalie isteineKämpferin, will sich auch von diesem Schicksalsschlag nicht unterkriegen lassen. Die unerträglichen Schmerzen: Bald kann sie ihnen auch etwas Positives abgewinnen. „Sie haben mir mein Körpergefühl zurückgegeben“, sagt sie heute. Sie verzichtet auf Schmerzmittel, hört auf das, was der Körper ihr sagen will. Schritt für Schritt geht es voran. Bald auch im ganz wörtlichen Sinne: Mit einem Rollator und Schienen kann sie selbst ein paar Meter gehen. Sie bezieht im Haus der Eltern eine eigene Wohnung und macht den Führerschein für ein Spezialfahrzeug mit Rolli-Verladesystem. Autofahren ohne fremde Hilfe, was für ein Luxus.
Bald ist die Perspektive eine ganz andere. In einer Spezialklinik in Pforzheim hat sie einen Therapieplatz bekommen. Als sich herausstellt, dass die Krankenkasse die Kosten dafür nicht übernimmt, sammeln Menschen Tausende von Euro für Natalie ein. Sie ist überwältigt und angestachelt zugleich.
Von wegen ein Leben lang nur im Rollstuhl! Erst kürzlich hat sie die ersten Schritte mit Krücken gemacht. Eine Gehhilfe statt Orthesen und Rollator, welch ein Fortschritt. Mit einem Freund bricht sie eigenständig in einen Türkei-Urlaub auf und ist längst auch wieder berufstätig: ein 50-Prozent-Job in einer Beratungsfirma, das lässt sich gut mit den drei Physiotherapie-Einheiten pro Woche verbinden.
Natalie Henkel will nichts schönreden. Nicht jeder Tag ist für sie gleich, nicht jede Stunde voller Hoffnung. Verzweiflung und Niedergeschlagenheit gehören auch heute noch zu ihrem Alltag.
Das Leben ist nun so kostbar
Die mehr oder weniger starke Einschränkung, sie wird ein Leben lang bleiben. „Aber ich bin nicht krank“, sagt sie, „das ist etwas anderes.“ Sehr bewusst nimmt sie ihren Körper wahr, jeden Muskel, alles, was trotz Querschnittlähmung gut funktioniert.
Auf eine ganz neue Weise lernt sie die alltäglichen Dinge schätzen. Wo früher alles immer schnell gehen musste, lässt sie sich nun Zeit: fürs Essen, Natur genießen, Sonne tanken, mit anderen Menschen zusammen sein.
Natalie Henkel ergriff ihre zweite Chance. Foto: Privat
„Ich bin sehr dankbar“, sagt sie. Es ist ein Satz, der für sie heute eine ganz andere, eine ganz elementare Bedeutung hat. Im Winter hält sie einmal am Straßenrand an und lässt sich vom glitzernden Schnee auf den Tannenzweigen verzaubern. „Ich hatte Tränen in den Augen“, erzählt sie, „es war ein himmlischer Moment.“
Natalie Henkel ist zurück im Leben. Es ist ein Kampf, noch immer. Die täglichen Mühen und Schmerzen bleiben eine dauerhafte Herausforderung. Aber jeder noch so kleine Fortschritt zählt. Und jeder noch so kleine Moment. Sie hat den Unfall überlebt, Gottseidank, auch wenn es wohl nie wieder ganz so sein wird wie vorher.