Die Reformation war der erste große Dämpfer, den die Pilgerei bekam. Luther verurteilte die Buß- und Ablasspraxis, die Geschäftemacherei und die Verantwortungslosigkeit vieler Pilger. Manche hatten Haus, Hof und Familie aufgegeben und waren einfach losgezogen. Andere ließen für Geld Vasallen auf Bußtour gehen, um dem Fegefeuer zu entkommen.
Im Barock hatte das Pilgern noch einmal eine Renaissance erfahren. Doch Aufklärung und Säkularisation Anfang des 19. Jahrhunderts brachten es endgültig in Verruf. So passierte bis weit ins 20. Jahrhundert jenseits der katholischen Wallfahrten eigentlich nicht mehr viel. Der Jakobsweg war weitgehend in Vergessenheit geraten.
Erst Papst Johannes Paul II. knüpfte wieder an. Von einem europäischen Friedens- und Kulturweg sprach er 1982. Eine Zertifizierung durch den Europarat folgte 1987. Nach und nach wurden Jakobusgesellschaften wiedergegründet, 1993 die Hauptroute nach Santiago de Compostela von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.
Jakobsweg. Foto: minree, pixabay
Stück für Stück folgten die Wege. Ihre Wiederbelebung war nun längst keine rein katholische Angelegenheit mehr. „Die Kritik von Martin Luther hat nichts mehr mit der heutigen Pilgerpraxis zu tun“, sagt der 86-jährige Paul Geißendörfer. Mit Interesse verfolgte er eine Entwicklung, die seine Regionalroute in ein ganzes Netz von neuen Jakobswegen einbettete.
Seit 2016 hat die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Bayern einen eigenen Pilgerpfarrer. Es ist Oliver Gußmann aus Rothenburg ob der Tauber, sein Dienstsitz ist Nürnberg. 2020 kam der Religionspädagoge Michael Kaminiski in München dazu. Beide Großstädte München und Nürnberg unterhalten zwischenzeitlich evangelische Pilgerzentren.
Pilgern auf dem Jakobsweg - Kerkeling und das Medienecho
Nicht viel anders ist die Entwicklung in Württemberg. Dort begann der Diakon Jürgen Rist vor fünf Jahren mit einer befristeten halben Projektstelle. Im Herbst 2019 hob die Landessynode die Befristung auf und erhöhte sein Deputat auf 75 Prozent. „Ich könnte auch 100 Prozent arbeiten“, sagt Rist, der staunend registriert, wie die Schar der Pilger immer weiter wächst.
Der Kerkeling-Effekt ist nur eine Erklärung. Als der Komiker 2006 sein Buch „Ich bin dann mal weg“ veröffentlichte, wurde es ein Bestseller, mit über vier Millionen verkaufter Exemplare. Seit Kerkeling ist das Pilgern in aller Munde. Längst hat es die konfessionellen Grenzen verlassen, nicht selten gehören die, die sich auf den Weg machen, überhaupt keiner der klassischen Kirchen mehr an. Es sind Sinnsucher, Menschen an Lebensübergängen, Wanderer, die ihre Seele berühren lassen wollen.
„Das Thema ist da“, sagt der Württemberger Rist, „und es ist die Frage, ob wir als Kirche mit dabei sein wollen.“ Die Antwort haben die Beteiligten längst gegeben. Fast überall gibt es hauptamtliche Stellen, mit einer Fülle von kirchlichen Angeboten: Pilgerbegleiter werden geschult, Gruppenprogramme entworfen, Tagestouren gemacht, die auch die mit hineinnehmen, die das alles nur mal ausprobieren wollen.
„Das ist für uns eine große Chance“, sagt Thomas Roßmerkel, der bei der Evangelischen Landeskirche in Bayern den Bereich Kirche und Tourismus leitet. Pilger sind offen, besonders für spirituelle Botschaften, „und da haben wir etwas zu bieten“. Antworten auf Fragen des Lebens, die heute gerne in der Natur und nicht mehr im Inneren einer Kirche gesucht werden.
Jakobsweg. Pilgern für Jedermann. Foto: xtberlin, pixabay
Die Fülle der Pilgerwege, die entstanden sind, ist schier unüberschaubar. Es sind beileibe nicht nur Varianten des Jakobswegs, von denen hier die Rede ist. So haben die Katholiken in Württemberg ein neues Netz von Martinuswegen entwickelt, auch weil ihnen die Jakobswege inzwischen zu evangelisch geworden sind, wie gerne mit einem Augenzwinkern kolportiert wird.
Im Grunde aber spielen beim Pilgern Konfessionen keine Rolle mehr. Die Sehnsucht nach Spiritualität wächst, verbunden mit einem Gefühl von Freiheit, das weder evangelisch noch katholisch ist. □