Birgit wurde in eine Zeit geboren, in der von Teilhabe keine Rede war und in der die UN-Behindertenrechtskonvention in weiter Ferne lag. „In Schwäbisch Hall haben wir aber eigentlich nur gute Erfahrungen gemacht“, sagt Schürrle-Shakar im Rückblick. Petra und Birgit wuchsen mehr oder weniger im Diakoniekrankenhaus auf, in dem die Eltern einen Friseurladen hatten. „Die Diakonissen hatten viel Verständnis. Auch in der Stadt gab es viele Kontakte. Durch die vielen großen Träger der Behindertenhilfe gab es wenig Berührungsängste.“ Wichtig war auch die Sonnenhofschule, in der Birgit eine der ersten Schülerinnen war – in einer Zeit, in der es für Kinder mit Behinderung noch keine Schulpflicht gab. „Sie war glücklich in der Schule“, erinnert sich die große Schwester. „Als der Fahrdienst sie zum ersten Mal abholte, stand die ganze Straße Spalier und hat geklatscht und gewunken.“
So gingen die beiden durchs Leben. Die eine trug die Verantwortung, die andere stand im Rampenlicht. Diesen Platz liebte Birgit, sie bekam ihn von der älteren Schwester überlassen. „Birgit war aber nie lästig, nie aufdringlich. Alle mochten sie.“ Birgit entwickelte sich zu einer lebenslustigen Frau mit viel Selbstbewusstsein und großer Schlagfertigkeit. Ihre Frau stehen, das konnte sie, auch wenn sie nie lesen und schreiben gelernt hat. Neben ihrer Ausdrucksfähigkeit hatte Birgit noch ein anderes Talent. Birgit stiftete Frieden. „Wo sie erschien, da herrschte Harmonie. Alle beruhigten sich, wenn sie da war. Auch wenn es in der Familie mal hoch herging. Birgit hatte ein feines Gespür dafür, wie es einem Menschen gerade ging.“ Mit einem hintersinnigen Spruch – manchmal weise, manchmal knitz – entspannte sie die Situation und brachte die Menschen zum Lachen. „Wie sehr das ihr Talent war, wird uns eigentlich erst im Nachhinein klar“, sagt ihre große Schwester.
Dass es heute immer weniger Menschen mit Down-Syndrom gibt, dass sich also immer mehr Eltern nach einer Diagnose dazu entscheiden, eine Schwangerschaft abzubrechen, bedauert Petra Schürrle-Shakar, auch wenn sie Verständnis dafür hat. „Mein Leben wäre ärmer ohne meine Schwester Birgit.“ Dass sie etwa einen sozialen Beruf erlernt hat, führt sie auf ihre Erfahrungen zurück.
Birgit teilte die Begeisterung ihrer großen Schwester Petra für Indien. Die beiden waren zeit ihres Lebens ein eingespieltes Team. „Ich vermisse sie täglich“, sagt Petra Schürrle-Shakar. „Das Zimmer, in dem sie bei uns immer übernachtet hat, ist noch immer ‚Birgits Zimmer‘.“ Das Buch über Birgit war deshalb eine gute Möglichkeit, noch einmal alles zu überdenken. „Aber es war Birgits Idee. Bei meinem ersten Buch über indische Märchen gab es zur Feier einen Sekt. Den wollte sie bei meinem nächsten Buch unbedingt wieder haben.“
„Ich erzähle dir etwas, und du schreibst es auf“, hatte sie zur Schwester gesagt. Die ersten beiden Kapitel entstanden deshalb noch gemeinsam. Dann starb Birgit Schürrle an Komplikationen nach einer Lungenentzündung. Die Schwester legte das Manuskript erst einmal zur Seite. Doch ein Fest hat es trotzdem gegeben: Birgits Beerdigung. „200 Leute kamen“, erinnert sich die Schwester. „Viele davon hatte ich noch nie gesehen.“
Sie alle trauerten um eine ganz besondere Frau, und sie feierten sie mit ihren Lieblingsmelodien. Mit Tagore-Liedern, vom Schwager Ranju Shakar vertont, mit Kasatschok und Drafi Deutscher. Auch Birgits Musikgeschmack sprengte Grenzen. „Aber am allerliebsten hatte sie doch den Vogelgesang. Sie hörte ganze Opern darin. Und wenn heute im Garten die Vögel besonders schön zwitschern, dann denke ich, dass mir Birgit wieder ihre besonderen Freunde schickt“, sagt Petra Schürrle-Shakar.
Am 4. November wäre Birgit Schürrle 60 Jahre alt geworden. „Das feiern wir natürlich mit allen ihren Freundinnen“, sagt die Schwester. Dann singen alle wieder. Bestimmt auch Birgits Lieblingslied: „Weine nicht, wenn der Regen fällt ...“