Etwa 40 bis 50 Prozent der Gespräche drehen sich mittlerweile im weitesten Sinne um Corona, hat Stefan Jooß beobachtet. Während es zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen noch Angst vor einer Ansteckung war, die die Menschen umgetrieben hat, ist es jetzt eher die Sorge um die Folgen der Aus-gangsbeschränkungen, um Laden- und Schulschließungen. „Da fragt sich ein Café-Besitzer, wie es nun finanziell weitergehen soll“, sagt Jooß. Oder es gibt Spannungen in der Familie, weil alle zu Hause sind. „Dazu kommt noch ein allgemeines Unsicherheitsgefühl, weil keiner von uns so genau weiß, wie es weitergeht. Auch die Wissenschaft hat darauf unterschiedliche Antworten.“ Außerdem hat Jooß eine „politische Unsicherheit“ festgestellt, wie er das nennt.
Corona - Nichtwissen schürt Angst
Viele fragten sich, was wohl die Hintergedanken bei den Anti-Corona-Maßnahmen sind. Nach dem Motto: „Bislang hat sich der Staat doch auch nicht dafür eingesetzt, Alte und Schwache zu schützen. Jetzt ist ihm das plötzlich wichtig. Was steckt hinter diesem Sinneswandel?“ Vielen Menschen fehle hier ein entscheidendes Puzzle-Teil zum Verständnis. Und Nichtwissen schürt Ängste.
Die Mitarbeiter der Telefonseelsorge sprechen mit den Anrufern vor allem über die Gefühle, die diese Ängste bei ihnen auslösen. „Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte?“, ist hierbei eine Schlüsselfrage. „Wir neigen dazu, das zu verdrängen, was uns Angst macht“, sagt Stefan Jooß. Das führe zu einem Gefühl der Ohnmacht – und häufig auch zu körperlichen Beschwerden. „Sobald jemand aber ausspricht, wovor er sich wirklich fürchtet, konfrontiert er sich selbst damit“, sagt Jooß. Der Vorteil, wenn man diese tiefsten Ängste einem Telefonseelsorger mitteilt: „Da ist jemand da, der das aushält. Der die Angst nicht einfach verdrängt oder wenig hilfreiche Ratschläge gibt.“ Jemand, der dabeibleibt, der sich nicht wegduckt, der nachfragt, was an diesem hässlichen Gefühl das Hässlichste ist. „Dadurch entweicht der Druck, unter dem die Menschen stehen“, so beschreibt es Jooß. Und es entsteht wieder Freiraum für klare Gedanken. Dann fällt dem Kleinunternehmer beispielsweise ein, dass es da noch eine Erbschaft oder Rücklagen gibt, die er eigentlich anders verwenden wollte, die ihm jetzt aber helfen können.
Stefan Jooß ist stellvertretender Leiter der evangelischen Telefonseelsorge Stuttgart.
Foto: Pressebild/ Martin Stollberg
Verhalten sich die Anrufer zurzeit aggressiver? Nein, das sei „eher so wie immer“, berichtet Stefan Joos. Es könne vorkommen, „dass jemand anruft und erstmal eine halbe Stunde lang ins Telefon hineinschreit – um dann festzustellen, dass die bei der Telefonseelsorge auch nicht besser sind als alle anderen und den Hörer aufknallt.“ Keine leichte Situation für die Mitarbeiter. Aber sie sind für solche Fälle geschult. „Wir wissen, dass die Anrufer ihre Energiedepots wieder auffüllen, wenn solche Sätze fallen“, sagt Stefan Jooß. Und das könne für den Anrufer hilfreich sein, auch wenn es für die Mitarbeiter schwierig ist. Die atmen nach einem solchen Gespräch erst einmal durch, machen eine Pause oder sprechen mit einer Kollegin, um wieder klar zu sehen.
Seelsorge - Es ist immer jemand da
Neben den Anrufern, die sich wegen Corona Sorgen machen, gibt es aber auch viele, die mit sich selbst Probleme haben oder gerade in einer schwierigen Lebensphase stecken. Angst, Depression, Einsam-keit, Umgang mit eigener Schuld – alles ist dabei. Die Angst vor Corona kann diese Themen verschär-fen. Darüber hinaus gibt es auch viele, die regelmäßig anrufen, einmal in der Woche oder täglich. Sie machen, wie alle Anrufer, die Erfahrung, dass ihnen jemand eine halbe bis dreiviertel Stunde zuhört. „Und das tut einfach gut“, sagt Stefan Jooß. Auch in stabilen Verhältnissen erlebe man das eher selten. „Die Leute melden uns zurück, dass ein solches Gespräch für sie ist, als würde für einen Moment die Sonne aufgehen.“ Das sei wie der Besuch bei einem guten Arzt: „Nach einem Gespräch mit ihm fühlt man sich schon gesünder, obwohl man noch gar keine Medikamente eingenommen hat“, beschreibt Jooß das Phänomen.
Bringt es denn etwas, wenn jemand immer wieder mit derselben Geschichte anruft? Ja, sagt Jooß. Denn dadurch, dass man bei der Telefonseelsorge jedes Mal einen anderen Ansprechpartner habe, würden viele Anrufer ihre Geschichte auch jedes Mal etwas anders erzählen. Diese klitzekleine Abweichung könne schon ausreichen für einen Blickwechsel. „Das ist wie ein Riss im Eisklotz“, sagt Jooß. Für den Moment öffne sich so das Leben auf die Zukunft.
Sie sind rund um die Uhr für die Anrufer da: Mitarbeitende der Telefonseelsorge. Foto: epd-bild
Bei der Telefonseelsorge geht es anonym zu. Die Menschen müssen weder ihren Namen noch ihre Adresse preisgeben. Viele der regelmäßigen Anrufer seien ohnehin schon in Hilfsprogrammen, für die sie auch etwas tun müssten. In der Telefonseelsorge müssen sie dagegen nichts tun, sie dürfen einfach reden. Die Seelsorger versprechen ihnen: „Ich bin für dich da in diesem Moment. Und morgen ist wieder jemand da. Es ist immer jemand für dich da.“
Eine frohe Hoffnung ist mehr wert als zehn trockene Wirklichkeiten.