Als ein paar Tage später in ihrer Schule ein Fotoprojekttag anstand und sich die Lehrerin über ihre fehlende Begeisterung wunderte, brach alles aus ihr heraus und sie vertraute sich ihr an. Zusammen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer Beratungsstelle planten sie die Flucht. Ariana landete nach kurzen Zwischenaufenthalten in Baden-Württemberg. Dort lebte sie zunächst in einem Schutzhaus, einer Wohngruppe für verfolgte Migrantinnen, und später in einer eigenen Wohnung.
Schwebezustand nach der Flucht
Für Ariana ist es ein Schwebezustand, in dem sie sich seit fünf Jahren befindet. Der Austausch mit den anderen betroffenen Frauen gibt ihr Halt, sie hat inzwischen einen Alltag für sich gefunden: Seit zwei Semestern studiert sie und beschäftigt sich intensiv mit Medien.
Ariana wird immer wieder vom Schatten ihrer Kindheit eingeholt. (Foto: picture-alliance)
Die Vergangenheit ist jedoch immer noch präsent, Tag für Tag. Vor allem zu Beginn ihres neuen Lebens, nach der Flucht, brachen die Situation und ihre damit verbundenen Gefühle mit voller Wucht über sie herein. „Es war wie ein Asteroid, der auf mich zugerast kam“, beschreibt sie es.
Den Kontakt mit der Familie hat sie abgebrochen, vor zwei Jahren das letzte Mal mit ihrer Mutter telefoniert. Diese hat sich bei ihr entschuldigt für das, was den Kindern angetan wurde. Ariana zuckt mit den Schultern. „Sie tut mir leid, mehr Gefühle habe ich meiner Familie gegenüber nicht.“ Immerhin habe es ihre Mutter geschafft, sich scheiden zu lassen. Der Ausbruch ihrer Tochter spielte dabei eine entscheidende Rolle. „Sie meinte, sie ertrage es nicht, nochmal ein Kind zu verlieren.“
Sollte ihr Vater, „mein Tyrann“, wie sie ihn nennt, nicht mehr leben, wäre das eine riesige Erleichterung für sie. „Wahrscheinlich würde ich trotzdem die eine oder andere Träne vergießen, auch wenn er es nicht wert ist.“ Nur ihren kleinen Bruder, für den Ariana Mutterersatz war, vermisst sie manchmal. Doch auch zu ihren Geschwistern hat sie jegliche Verbindung abgebrochen.
Gewalt hinterlässt Spuren: Panik, Depression, Schwebezustand
Vor ein paar Wochen hat sich Ariana ihre Haare wieder einmal raspelkurz abrasieren lassen. Es fällt ihr schwer, zu ihrer Weiblichkeit zu stehen. Nach wie vor leidet sie unter starken Ängsten und Albträumen. Szenen aus der Vergangenheit tauchen regelmäßig auf, immer wieder bekommt sie Panikgefühle beim Gedanken, ihre Familie könnte sie aufspüren.
Sie kämpft mit periodisch wiederkehrenden depressiven Phasen; eine chronische Krankheit, die vor zwei Jahren festgestellt wurde, macht ihr zu schaffen. Die junge Frau hat nach wie vor Probleme, sich auf verbindliche Freundschaften einzulassen. Doch Ariana stellt sich ihren Problemen und ihrer Vergangenheit, versucht, mit Hilfe von Psychologen ihre Situation von außen analytisch zu betrachten, an sich zu arbeiten.
Regelmäßig übt sie das, wovor sie am meisten Angst hat: anderen Menschen in die Augen zu schauen, ihnen Komplimente zu machen, einen Witz zu reißen oder über ihre Gefühle zu sprechen. Sie lernt, sich selbst gegenüber gnädig zu sein, es sich nicht übel zu nehmen, „wenn ich mal komisch reagiere“.
Trotzdem fällt es ihr schwer, den Schwebezustand, in dem sie sich befindet, auszuhalten. „Es fühlt sich an, als ob ich mich 24 Stunden am Tag auf einer Schwelle befände“, beschreibt sie es. In ihrem Leben gebe es nur schwarz und weiß. „Dabei möchte ich auch Grauzonen haben.“
Gewalt und Flucht und der Glaube an Freiheit
Um dahin zu kommen, konzentriert sie sich auf sich selbst und ihre Stärke, die sie aus ihrem Innersten schöpft. „Ich habe einen großen Willen und weiß: Irgendwann werde ich der Mensch sein, der ich sein möchte.“ Das Tanzen, eine große Leidenschaft, hilft ihr, zu sich selbst zu finden. Aber auch ihre Kreativität und die Freude an Kunst und Fotografie geben ihr Kraft. Ebenso der Austausch mit anderen Studierenden, zu denen sie erste schüchterne Kontakte geknüpft hat.
Ihre Zukunft sieht Ariana klar vor Augen: Möglichst bald will sie aus Deutschland auswandern. Am liebsten in die USA – erst mal für ein Praxissemester oder um nach dem Studium dort zu arbeiten. Manchmal schafft es die 21-Jährige, ihre Ziele so für sich zu visualisieren, dass in ihr Bilder mit blitzartigen Sequenzen aus der Zukunft aufsteigen.
Einmal sieht sie dabei sich selbst Ballett tanzend in einem großen, hellen Raum mit Dielenboden, hohen Fenstern und Spiegeln. In einer anderen Szene läuft sie mit hochhackigen Schuhen und Sonnenbrille durch eine lebhafte, sonnige Stadt. Mit einem Gefühl des tiefen Glücks, der Stärke und Unabhängigkeit.
Ariana ist fest davon überzeugt, dass sich diese Bilder bewahrheiten werden. Zumal sie erste Erfahrungen damit gemacht hat, wie es sich anfühlt, wenn ein jahrelang gehegter Traum schließlich in Erfüllung geht. Die braunen Augen funkeln, als sie von ihrem ersten Mac-Computer erzählt, den sie sich vor ein paar Monaten gekauft hat. Mit dessen Hilfe konnte sie ihre grafischen Ideen erstmals richtig umsetzen.
Um den Rechner zu finanzieren, hat sie neben ihrem Studium gejobbt und um Spenden geworben. Für Ariana ist der Schwebezustand erst beendet, wenn sie in einem anderen Land einen zweiten Neuanfang wagen darf. Weit weg von ihrer Familie, den Ozean zwischen sich und ihrer traumatischen Vergangenheit.
Bis dahin gibt sie sich selbst den Rat: „Vergiss nie, was du erreichen möchtest, lass dich nicht von deiner Angst lähmen. Denn egal, was passiert: Ich habe immer noch mich selbst – und das ist das Wichtigste im Leben.“