Ulrike Scherzer, Honorarprofessorin an der Fakultät für Architektur an der Universität Stuttgart, erzählt, dass sie das Thema Wohnen im Alter immer wieder in ihren Vorlesungen aufgreift, bis vor kurzem auch im Studiengang „Integrierte Gerontologie“, der aber wenig nachgefragt worden sei. Sie zieht ihre eigenen Schlüsse aus den Recherchen zum Buch: „Ich bin jetzt Ende 50, da überlegt man schon: Bleibt man, wo man ist, oder verändert man sich noch einmal komplett?“
Interessiert und weltoffen trotz Begrenzung
Corona verleiht dem Buch eine fast schon philosophische Tiefe: Plötzlich war der Aktionsradius für viele Menschen jedes Alter auf die eigenen vier Wände begrenzt. Auch Scherzers Studenten hätten dadurch mehr darüber nachgedacht, wie es ist, wenn man kaum oder nicht mehr rauskommt, erzählt Scherzer: „Sonst ist man ja immer unterwegs, da ist es nicht so wichtig, wie die Wohnung eingerichtet ist.“ Plötzlich sind die Schilderungen der alten Damen wie Tipps zur Bewältigung des Stillstands: Wie integriert man Bewegung in den Alltag, wie kommt man mit dem Alleinsein klar, wie bleibt man interessiert und weltoffen?
Kuscheltiere gibt es nicht nur im Kinderzimmer und die Hängeschränke sind oft unerreichbar. Foto: Pressebild/ Juliana Socher
Die Fragen, die Scherzer aufwirft, hallen nach. Soll man in ein altengerechtes Domizil umziehen oder lieber in der vertrauten Umgebung bleiben? Eher in der Stadt oder auf dem Land? Wer hilft den Alltag zu bewältigen? Das Buch stellt auch unkonventionellere Ansätze vor: Das Leben in einem Wohnprojekt, oder die Hilfe durch die nette Nachbarin.
Oder der Fall der ehemaligen Dorfschullehrerin, bei der sich nun die vormaligen Schüler als Helfer abwechseln: „Der eine kauft für sie ein, der andere fährt sie ins Theater – sie muss eine sehr gute Lehrerin gewesen sein“, sagt Scherzer und lacht. Wer zwischen den Zeilen liest, bemerkt aber auch die Schwierigkeit, angebotene Hilfe anzunehmen. Im Buch bringt Gertraud (86) das Problem auf den Punkt: „Da habe ich dann auch meinen Stolz. Es ist ein großer Unterschied, ob derjenige einfach kommt und fragt: ‚Was brauchst Du?‘ Oder ob man bitten muss. Da überlegen Sie zweimal – mindestens!“
Nachbarschaftshilfe. Foto: Holger Kraft, pixabay
Die Buchautorin zieht daraus Schlüsse für die Arbeit mit alten Menschen – sowohl in den weltlichen als auch in den Kirchengemeinden: Ob man nun anrufe oder regelmäßig einen Zettel in den Briefkasten stecke – wichtig sei es dranzubleiben, auch wenn die Betreffenden immer wieder ablehnten.
Manchmal sind es nur scheinbare Kleinigkeiten, an denen es hakt: „Ich sehe das an meiner Mutter“, sagt Scherzer. „Sie ist 90, aber sie würde nie zu einem Altennachmittag gehen – sie ist nicht alt!“ Erfolgreicher seien Angebote, die kein spezifisches Alter ansprechen, aber auf die Bedürfnisse der Senioren eingehen: „Wenn jemand mit 80 Jahren Spanisch lernen möchte, dass wird das nicht so schnell gehen, wie bei Jüngeren. Aber die Überschrift ist trotzdem: Spanisch lernen.“
Besonders spannend seien Kurse, in denen junge Menschen Älteren beim Einstieg in Computer und Internet helfen. Das bringt dann auch die Generationen in Kontakt, denn nur wer sich kennt, kann auch helfen – und sich helfen lassen.
Wann ist ein guter Zeitpunkt, über das Wohnen im Alter nachzudenken? Scherzer empfiehlt die Zeit Ende 60, Anfang 70. Weil man dann noch aktiv genug sei, sich gegebenenfalls in einer neuen Umgebung wieder einzuleben und die Kontakte zu knüpfen, die später äußerst hilfreich sein können.
„Es hat sich bei einer der Lesungen eine Besucherin zu Wort gemeldet, die vergleichsweise früh in ein betreutes Wohnen umgezogen ist. Auch wenn sie von den angebotenen Hilfen bislang noch sehr wenig in Anspruch nimmt, genießt sie doch die Geselligkeit unter den Bewohnern und die regelmäßigen Treffen.“
Schockotorte. Foto: Lolame, pixabay
War es schwer, so inspirierende und beherzte Damen für das Buch zu finden? Es seien einige Verwandte darunter, sagt Scherzer, dann habe sie den Kreis über Empfehlungen weiter ausgedehnt. „Wir mussten bei den Besuchen Unmengen Kaffee trinken und sehr viel Kuchen essen!”, sagt sie und schmunzelt. Als das Buch nach rund zweijähriger Vorarbeit erschien, waren ein paar der Frauen bereits verstorben.
Eine der Porträtierten, die 91-jährige Marie-Louise M., fasst die Essenz des Buchs „Altweiberwohnen“ so zusammen: „Übrig bleiben ist auch schön. Ich habe viel Beschäftigung. Ich sag immer: Ich brauch noch zehn Jahre.”
Vor dem Alter steht ein bewegtes Leben, das mit dem Alter nicht einfach so endet.