Gilt dies auch noch heute?
Philip Gorski: Nicht mehr. Immer mehr Kirchengemeinden sind unter ökonomischen Gesichtspunkten organisiert. Sie werden von oben geführt von unternehmenslustigen Pastoren und wohlhabenden Geschäftsleuten. Der Kirchendienst wird zur Dienstleistung, der Kirchenbesuch zum Spektakel und das Kirchenvolk zum bloßen Publikum.
Hat das auch die politischen Mentalitäten der Christen verändert?
Philip Gorski: Ja, und zwar entscheidend. Die kleinen, eher demokratisch strukturierten Kirchengemeinden – in den Worten Tocquevilles noch „Schulen der Demokratie“ – weichen zunehmend großen, eher geschäftlich ausgerichteten Kirchen-Unternehmen, in denen sich der Pastor als CEO versteht. Kein Wunder also, dass so viele Mitglieder sogenannter „Megakirchen“ sich zu Hause fühlen bei Trump.
Was verbindet und was unterscheidet den Baptisten und Demokraten Jimmy Carter vom Methodisten und Republikaner George W. Bush?
Philip Gorski: Sie trennt weniger als man denkt, zumindest was die Sozialpolitik betrifft. George W. Bush wollte die Republikanische Partei im Sinne eines „barmherzigen Konservativismus“ umgestalten. Wie Carter wollte er eine Politik im Sinne christlicher Nächstenliebe verfolgen. Wäre 9/11 nicht gewesen und Dick Cheney nicht im Amt, wäre es ihm vielleicht gelungen. Nur glaubte Bush – wie viele amerikanische Christen – dass man das Böse mit Gewalt aus der Welt jagen könne, und die USA dazu berufen seien.
Donald Trump – mehrfach verheirateter Betreiber von Spielcasinos – scheint nicht für einen Erfolg im christlich-konservativen Milieu prädestiniert zu sein ...
Philip Gorski: Nicht wenige glauben im Ernst, dass Trump ein „guter Christ“ sei. Anderen geht es darum, möglichst viele konservative Richter ins Amt zu setzen und dadurch eines Tages die Abtreibung völlig zu verbieten. Viele amerikanische Christen halten sich für „die meist verfolgte Gruppe“ in den USA und sehen in Trump einen starken, von Gott gesandten „Beschützer.“
Das Ergebnis der Präsidentenwahl in den USA wird mit Spannung erwartet. Foto: Africa Studio/ Adobe Stock
Woher kommt das Empfinden einer „Christen-Verfolgung“ in den USA?
Philip Gorski: Konkret wird auf bekannte Fälle hingewiesen, wie zum Beispiel die von strengen Evangelikalen in Colorado geführte Bäckerei die vor Gericht kam, weil die Betreiber keinen Hochzeitskuchen für ein schwules Paar backen wollten. Generell berufen sich viele weiße Evangelikale auf ihre „religiöse Freiheit“. Was sie mit deren angeblicher Beschneidung in Wirklichkeit meinen, ist der Verlust ihrer Privilegien als die tonangebende Mehrheit. Dabei versteht sich diese Gruppe als eine Mehrheit unter den Weißen, die sich insgesamt inzwischen einer nichtweißen Mehrheit gegenübersieht. In diesem Fall sind Religion und Rasse miteinander völlig verquickt.
Kann man denn von „den“ Evangelikalen in den USA sprechen?
Philip Gorski: Wenn man von „den“ Evangelikalen spricht, hat man meistens ältere, weiße Evangelikale im Sinne. So viele theologische Gemeinsamkeiten sie auch mit jüngeren und/oder nicht-weißen Evangelikalen haben, vertreten letztere oft eher fortschrittliche politische Ansichten, beispielsweise was Einwanderung oder Klimaschutz betrifft.
Wie stellen sich die theologisch moderateren evangelischen „Mainline Churches“ zur Regierungspolitik?
Philip Gorski: Die sind auch politisch moderater. Aber auch in ihren Reihen finden sich viele weiße christliche Nationalisten, die mit den Evangelikalen das Gefühl teilen, „ihr“ Land zu „verlieren.“
Wie könnte ein Sieg Trumps das Verhältnis von Staat und Kirche verändern?
Philip Gorski: Ein Wahlsieg Trumps würde nur wenige Folgen für das Staats-Kirche-Verhältnis haben, dafür ganz verheerende Folgen für die Demokratie. Es würde vielleicht leichte Verschiebungen der „Trennungsmauer“ geben, zum Beispiel, was die Rechte christlicher Firmen oder Unternehmer betrifft. Aber vor allem wäre es mit freien und offenen Wahlen erst mal vorbei in den USA.
Mit freien Wahlen wäre es vorbei
Inwiefern sollten spätere Wahlen unfreier sein? Und wo erwarten Sie Widerstand von den Kirchen?
Philip Gorski: Sollten Trump und die Republikaner die Wahl gewinnen und im Amt bleiben, werden sie ihre Strategie fortsetzen: Wahlrecht sowie Wahlbeteiligung so zu beschränken und die Wahlkreise so einzuteilen, dass eine Bevölkerungsminderheit dennoch die politische Mehrheit stellen kann. Sie werden es nicht scheuen, offenkundigen Wahlbetrug zu begehen. Man schaue nur, wie sie gegen die Briefwahl agitieren. Sollte Donald Trump 2020 gewinnen, heißt der Präsident 2024 wahrscheinlich immer noch Donald Trump – es fragt sich nur, ob Senior oder Junior. Widerstand dürfte wohl in erster Linie aus den Reihen der schwarzen Kirchen kommen, die seit der ersten Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre zu den Hauptträgern demokratischer Werte geworden sind.
Wie könnte sich ein Wahlsieg der Demokraten auswirken?
Philip Gorski: Das ist zurzeit die letzte Hoffnung für die amerikanische Demokratie.
Philip Gorski ist Professor für Soziologie an der Yale University in New Haven, Connecticut.