Gemeinschaft und Spiritualität gehören auch in Pandemie-Zeiten dazu, wie die Diakoniepfarrerin erläutert. „Beratung und Seelsorge wird es wieder vor der Leonhardskirche an unserem Gesprächstisch geben.“ Und an den Ausgabestellen suchen Diakoninnen und Diakone sowie ehrenamtliche Helfer das Gespräch mit den Gästen.
Hinzu kommt eine Neuheit. Täglich um 15 Uhr wird draußen vor der Leonhardskirche ein spiritueller „NachTisch“ für alle Gäste und Mitarbeitenden serviert. „Da lassen wir den Tag Revue passieren, mit wechselnder musikalischer Begleitung“, sagt Ehrmann. „Dabei soll es darum gehen, sich ein wenig zu besinnen und zur Ruhe zu kommen.“
Es sei nötiger denn je, dass die Vesperkirche öffnet, sagt die Diakoniepfarrerin: „Meiner Einschätzung nach ist die Vesperkirche Stuttgart in diesem Jahr ganz besonders angezeigt. Denn unter der Coronakrise im dritten Jahr leiden besonders die, die wenig haben.“
Arme in der reichen Stadt
Zwei Jahre Corona-Pandemie haben viele Menschen mürbe gemacht. Dennoch hatte Gabriele Ehrmann keine Mühe, genügend Helferinnen und Helfer zu finden. „Es gab viele Anfragen zur Mithilfe. Auch wenn es jetzt wieder Absagen gibt aufgrund der Infektionslage, was wir sehr gut verstehen können.“ Aber es hätten sich genug Menschen gemeldet, die anpacken wollen. „Offen sind die Herzen derer, die mitarbeiten“, sagte Prälatin Arnold in ihrer Predigt beim Eröffnungsgottesdienst. „Liebe trägt die Menschen durchs Leben.“
Start der Vesperkirche 2022 mit Hefeschlüssel: (von links) Heinz Rittberger, Prälatin Gabriele Arnold und die Pfarrer Christoph Doll, Gabriele Ehrmann, Daniela Milz-Ramming und Dekanin Elke Dangelmaier-Vincon.
Heinz Rittberger, der Leonhardskirche seit vielen Jahren eng verbunden, entzündete eine Vesperkirchenkerze, die er selbst gestaltet hatte. „Es möge sich Christi Friede über dieser Stadt ausbreiten“, wünschte Gabriele Ehrmann.
Nach dem Gottesdienst wurde gekocht, die Mahlzeiten wurden umweltfreundlich verpackt, eingetütet und den ersten Gästen überreicht. In den fünf Ausgabestellen in der Stuttgarter Innenstadt sieht Diakoniepfarrerin Ehrmann den Vorteil, dass das Warten erträglich bleibe. „Außerdem ist die Dezentralisierung ein Zeichen dafür, dass wir gemeinsam das Problem der Armut angehen. Und das ist ein gutes Zeichen.“ Gute Zeichen setzen und auf diejenigen zugehen, die nicht im Licht stehen, sei eine diakonische Aufgabe.
Die Vesperkirche will den Blick der Stadtgesellschaft darauf lenken, dass es im reichen Stuttgart viele arme Menschen gibt, die nicht am Wohlstand teilhaben. „Wir hoffen, dass eine politische Veranstaltung möglich sein wird“, sagt Gabriele Ehrmann. Auch kulturell soll ab Ende Januar einiges passieren.
Zu den fleißigen Helfern gesellen sich auch Prominente. 2021 schaute Cem Özdemir, heute Landwirtschaftsminister, vorbei. Foto: Pressebilder/ Monika Johna
Wenn sie einen Wunsch an die Stadt Stuttgart richten könnte – welcher wäre das? „Ich würde mir wünschen, dass Menschen, die in einer prekären Lage sind, rasch und unbürokratisch geholfen wird“, antwortet die Diakoniepfarrerin. „Stuttgart hat ein gutes soziales Netz. Die Grundsicherung Hartz IV aber ist in diesen Corona-Zeiten mit hoher Inflationsrate nicht ausreichend. Die Nebenkosten zur Miete sind vielfach nicht mehr bezahlbar.“
Und so rechnet Gabriele Ehrmann damit, dass in den nächsten Wochen mehr Menschen zur Stuttgarter Vesperkirche kommen als in den vergangenen Jahren. Die Vesperkirche soll wieder zu einem Segen für die Gäste werden.