Alternative Ethik?
Von Jahr zu Jahr sinkt die Zahl der Schüler im Religionsunterricht und steigt die Zahl jener, die einen religionsneutralen Ethik-Unterricht besuchen. Deshalb sei es höchste Zeit, den traditionellen (konfessionsgebundenen) Religionsunterricht durch einen neutralen Religionsunterricht zu ersetzen, sagen manche Bildungsexperten. Nach wie vor aber besuchen mehr Schüler und Schülerinnen den Religions- als den (in den weiterführenden Schulen alternativ angebotenen) Ethikunterricht. Dies bedeutet aber keine Ewigkeitsgarantie. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov vom Herbst 2016 unterstützten 69 Prozent das Vorgehen Luxemburgs, das den konfessionellen Religionsunterricht zum neuen Schuljahr 2016 durch einen allgemeinen Werteunterricht im Fach „Leben und Gesellschaft“ ersetzt hatte.
In den ostdeutschen Bundesländern wird die Abschaffung des Religionsunterrichts von über 80 Prozent der Befragten unterstützt. Als Berlin 2006 den verpflichtenden Ethik-Unterricht einführte (Religion und der „Humanistische Lebenskundeunterricht“ blieben als freiwillige Wahlfächer bestehen), sammelten die Gegner Unterschriften für einen Volksentscheid „pro Reli“. Ihr Vorstoß endete mit einer krachenden Niederlage, sie hatten am Ende zu wenige Unterschriften. Zu einem wichtigen Argument für den konfessionsgebundenen Religionsunterricht sind heute unerwartet die Muslime geworden, die in den Verfassungen von Weimar (1919) und Bonn (1949), als der Religionsunterricht Verfassungsrang bekam, keine Rolle spielten. Ein islamischer Religionsunterricht, der wie der evangelische oder katholische Unterricht staatlich kontrolliert würde und ein ordentliches Lehrfach wäre, wird inzwischen von vielen als großer Integrationsfortschritt angesehen.
Jesus im IslamWenn es um den Religionsunterricht geht, hält ohnehin jedes Bundesland etwas anderes für richtig. Gemäß Grundgesetz ist Religionsunterricht ein ordentliches Schulfach und wird zusammen mit den Religionsgemeinschaften erteilt. Ausnahmen gelten in Bremen, Brandenburg und Berlin. Dort ist ein bekenntnisgebundener Religionsunterricht kein Pflichtfach. In Brandenburg gibt es stattdessen das Pflichtfach „Lebensgestaltung-Ethik“, in Bremen wird konfessionsunabhängiger Religionsunterricht erteilt und in Berlin gibt es das Pflichtfach Ethik. Ethik ist „Wahlpflichtfach“ und damit faktisch gleichberechtigt mit dem Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, es ist „Ersatzfach“ unter anderem in Baden-Württemberg und Bayern.
In den neuen Bundesländern besuchen wesentlich mehr Schüler den Ethikunterricht, während in den alten Bundesländern noch weitgehend der konfessionelle Religionsunterricht die Oberhand hat. Das Beispiel Baden-Württemberg verdeutlicht dies: An den Grundschulen dieses Bundeslandes ist Ethikunterricht bislang überhaupt nicht vorgesehen, hier dominiert allein der bekenntnisorientierte Religionsunterricht. Erst in den Klassen 8 bis 10 gibt es „Ethik“ an allen weiterführenden Schulen, an Gymnasien ab Klasse 7 und in der Oberstufe. Auch berufliche Gymnasien bieten Ethik in der Kursstufe an.
Inzwischen hat ein Umdenken bei den Bildungspolitikern eingesetzt, noch in dieser Legislaturperiode soll Ethikunterricht in der gesamten Sekundarstufe I etabliert werden. Die Grundschulen bleiben weiter außen vor, obwohl im letzten Schuljahr landesweit knapp 20 Prozent der Grundschüler nicht am Religionsunterricht teilnahmen. Sie müssen in der Schule beaufsichtigt werden oder dürfen, sofern der Religionsunterricht in Randstunden erteilt wird, nach Hause gehen.
Warum aber sollen nicht muslimische, christliche und atheistische Kinder gemeinsam etwas über Jesus lernen? Gemeinsam etwas über Mohammed? Gemeinsam über Jahwe und Buddha? Gemeinsamer Unterricht über den Glauben statt nach Konfessionen getrennter Unterricht, in dem jeweils der eine Glauben gelehrt wird, fordern daher die Kritiker des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts. Miteinander über verschiedene Weltanschauungen und religiöse Konzeptionen ins Gespräch kommen und die Grenzen ausloten, ist ihr Ansatz und sie argumentieren, dass man den jungen Menschen mit einem konfessionell gebundenen Religionsunterricht genau diese Möglichkeit nimmt.
Nikolaus Knoepffler, dem Leiter des Ethikzentrums der Universität Jena etwa schwebt ein Fach wie „Religion und Philosophie“ vor, in dem alle Schüler gleich welcher Religion gemeinsam unterrichtet werden, um zu verstehen, was Weltanschauungen, was Religionen sind, wer die großen Religionsstifter und Philosophen waren. Einen klassischen „Gesinnungsunterricht“ lehnt er daher ab. Die eigene religiöse Identität, die man im Elternhaus und in der Kirchgemeinde lernt, erfährt und erlebt, sollte im öffentlichen Raum „Schule“ mit anderen Identitäten konfrontiert werden. Denn wer im Religionsunterricht neben jemandem sitzt, der anderes oder gar nicht glaubt, der lernt, was Toleranz heißt. Intuitiv würde ein solcher Schüler Lessings Ringparabel verstehen: dass jede Religion gleich wahr und gleich falsch ist; und zwar gleich wahr, solange sie tolerant, gleich falsch, sobald sie dogmatisch ist.
Die Bundesrepublik ist ein säkularer (nicht zu verwechseln mit laizistischer oder atheistischer) Staat mit einer säkularen Verfassung, welche die Religionsfreiheit auch an staatlichen Schulen in zweifacher Weise schützt. Die positive Religionsfreiheit wird durch einen konfessionellen Religionsunterricht gewährleistet, die negative Freiheit wird gesichert, indem niemand gezwungen wird, den Religionsunterricht zu besuchen bzw. kein Lehrer gezwungen werden kann, einen solchen zu erteilen. Das Grundgesetz garantiert die Glaubensfreiheit. Artikel 7 garantiert dem Religionsunterricht in öffentlichen Schulen den Status eines „ordentlichen Lehrfachs“, welches „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ wird.
Religionsfreiheit
Damit ist der Religionsunterricht an Schulen eine sogenannte „res mixta“, eine gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche. So haben wir in Deutschland eine staatliche Schulaufsicht auf der einen und die (Mit)Bestimmung für Lehrinhalte und Lehrkräfte bei den Religionsgemeinschaften auf der anderen Seite. Die Folge ist, dass im Fach „Reli“ Katholiken neben Katholiken, Protestanten neben Protestanten, (und zukünftig vielleicht auch) Muslime neben Muslimen lernen und im Fach „Ethik“ der ganze Rest. Die Befürworter des konfessionellen Bekenntnisunterrichts argumentieren, dass es erst einer religiösen Bildung bedarf, um überhaupt zu einer Urteilsbildung zu kommen. Man muss also erst Experte in seinem Glauben sein, muss wissen, was es beispielsweise bedeutet, evangelischer Christ zu sein, um dann Vertretern anderer Religionsgemeinschaften zu begegnen.
In der gegenwärtigen „religionspluralen Situation“ sei der konfessionelle Religionsunterricht besonders wichtig, findet Theologieprofessor und Oberkirchenrat der Landeskirche in Baden Christoph Schneider-Harpprecht ,,denn ein Interreligiöser Dialog bedinge eine „gebildete Religion“. Dieser religiösen Bildung an den Schulen sei es maßgeblich zu verdanken, dass der Fundamentalismus in Deutschland bislang so gering gehalten wurde, meint Werner Baur, Oberkirchenrat der Württembergischen Landeskirche. Dies sei mit ein Grund, warum sich die Kirchen in Deutschland für den muslimischen Religionsunterricht stark machten.
Eine Schärfung der eigenen religiösen Identität lasse sich viel effektiver in der direkten Konfrontation mit anderen Identitäten erleben, halten die Befürworter eines überkonfessionellen Religionsunterrichts dagegen. Bereits in der Schule zu erleben, dass es verschiedene ethische Ansätze, unterschiedliche moralische Vorstellungen und Glaubenssätze gleichberechtigt nebeneinander gibt, würde den Schülern helfen, in Grundfragen des Lebens Verschiedenheit zu erleben und auszuhalten. Vorurteile und Wissenslücken könnten im Dialog ebenso ab- wie Akzeptanz und Toleranz aufgebaut werden. Anstatt zusätzlich islamischen Unterricht für muslimische Kinder oder jüdischen Unterricht an staatlichen Schulen anzubieten, plädieren sie dafür, alle Kinder und Jugendliche in Religion überkonfessionell und gemeinsam zu unterrichten. Religion lehrt, dass es etwas Größeres gibt als uns Menschen. Religionskritik besagt, dass der Mensch dieses Größere verneinen darf. Nur wer beides lernt, ist fähig zur Religionsfreiheit: unbehelligt glauben oder unbehelligt nicht glauben zu dürfen. Ohne diese Freiheit ist ein friedliches Miteinander der unterschiedlichen Kulturen und Religionen undenkbar.