Warum die Welt so ist, wie sie ist, werden wir vielleicht eines Tages erfahren. Jetzt weiß ich nur eines: Die Außenbahnen gehören dazu, und es ist ihre Eigenart, besonders lang zu sein. Es sind die Bahnen der Not, aber auch die Bahnen, in denen die wichtigsten Entscheidungen des Lebens fallen. Hier wird der Grundstein gelegt, ob mein Herz bitter oder milde wird, ob ich weinen lerne oder fluchen, segnen oder vergelten. Von hier aus entscheidet sich, ob ich zur Mitte finde.
Als ich vor vielen Jahren bewusst in den Weg des Glaubens eintrat, war ich rasch nahe der Mitte und habe mich gewundert, warum die anderen mit dem Glauben Probleme haben. Aber dann wendete sich der Weg von der Mitte weg, und ich wanderte durch viele Zweifel. Schrittweise veränderten sich meine religiösen Vorstellungen. Es war ein Weg in die Weite, und ich schätzte dieses immer neue Ausschreiten in neue Wendungen.
Wer ein Labyrinth begeht, erkennt meistens erst auf den letzten Metern, wie nahe er der Mitte ist. Die Gedanken sind beschäftigt mit der überraschenden Feststellung, wie lange der Weg ist, bis auf einmal klar wird, dass die Mitte vor einem liegt. Die letzten Schritte sind bei fast allen Menschen begleitet von einem inneren und äußeren Aufrichten. Der letzte Schritt wird bewusst gesetzt, und in der Freude über die Ankunft richtet man sich nun ganz auf. Viele wollen in der Mitte bleiben, solange es geht.
Das Aufrichten tut übrigens gut. Es scheint, als ob hier einerseits eine Verbindung zwischen Himmel und Erde geschaffen wird und der Strom dieser Verbindung mitten durch einen hindurchströmt; andererseits liegt nun auch der Weg, den ich gegangen bin, um mich herum, das Schwierige und Leichte ist nun vereint. Am liebsten möchte man die Hände ausstrecken und ein Kreuz bilden und damit nicht nur die Verbindung von oben und unten, sondern auch die Verbindung von rechts und links, von Leid und Freude herstellen.
Mich erinnert der letzte Schritt in die Mitte auch an ein Gefühl aus der Kindheit. Wir haben tagelang ein Puzzle gelegt, und dann kam der Augenblick, als der letzte Stein eingefügt wurde. Alles, was vorher so wirr aussah, passte jetzt auf einmal zusammen und ergab ein schönes Bild. Es ist dieses „Es passt!“, das dem warmen Glücksgefühl zugrunde liegt.
Bewusster letzter Schritt im Labyrinth
Die Ankunft in der Mitte ist immer der Abschluss einer Klärung, eine Ankunft bei mir selbst und damit auch beim Ungeheuer in mir. Ich sehe, dass ich Helles und Dunkles in mir trage und mich der Frage stellen muss, wie ich damit umgehe. Dem Ungeheuer ins Gesicht zu blicken heißt, in mein Gesicht zu blicken. Es ist weder einfach, zum Ungeheuer hinabzusteigen, noch einfach, es nicht vorbeizulassen. Für jeden Menschen bedeutet es einen anderen Kampf. Es ist ein Kampf, dem keiner ausweichen kann, den aber jeder auf seine Art kämpfen muss.
Das Ungeheuer wächst oder stirbt in mir. Wenn ich mir das wirklich klarmache, ist diese Erkenntnis aber auch ungemein befreiend. Es geht nicht so sehr darum, wer schuld ist, und es geht auch nicht darum, wie groß die Schuld ist, sondern es geht immer um den Umgang mit der Schuld – verneinend, stur, hart, uneinsichtig oder ehrlich, demütig, änderungswillig.
Etwas weiteres kommt hinzu: Ich darf aus einem Glauben leben, der mir Befreiung, Hilfe und Erlösung anbietet und der mir damit die Angst vor mir selbst und meinem Ungeheuer nehmen kann. Dann steht dem freudigen Aufrichten nichts mehr im Weg. Der Weg in das Labyrinth hinein ist der Weg zu sich selbst. In der Mitte des Labyrinths sind wir bei uns angekommen. In der Mitte sind wir ehrlich zu uns selbst, gut zu uns selbst, kritisch zu uns selbst, mitfühlend mit uns selbst. Wir wissen: Das bin ich und das möchte ich.
Die Mitte des Labyrinths zu erreichen scheint das Ziel der Reise zu sein. Wenn wir nun dort sind, die Auseinandersetzungen überstanden haben, sich Erkenntnis und Selbsterkenntnis eröffnet haben, wir aufgerichtet wurden und den Raum der Mitte genossen haben, kommt der Augenblick, in dem sich uns eine Frage stellt: „Und was jetzt?“
Das Labyrinth in der Kathedrale im französischen Chartres lädt ein, es zu begehen. Foto: pd
Wir schauen uns um und stellen fest, dass wir – meist unsichtbar – einen Faden in der Hand halten. Langsam beginnt dieser Faden sich zu spannen und eine Einladung auszusprechen: „Geh den Weg zurück.“ „Den ganzen, denselben?“, mögen wir fragen. „Ja“, lautet die Antwort. Indem wir uns in der Mitte des Labyrinths umwenden, rückt der Eingang wieder in unser Blickfeld. Wer zu einer Reise, zu einem Ziel aufgebrochen ist, wer einem Traum folgt, hat diesem Ziel vieles untergeordnet – oft auch Wichtiges wie die eigene Familie, Freundschaften und Nachbarschaft, die eigene Gesundheit. Das Umwenden ist eine völlige Neuausrichtung. Jede Wendung war ein Fortschreiten auf dem bisherigen Weg. Jetzt kommt etwas Neues, das auch eine innere Umkehr voraussetzt. Im Umwenden geschieht etwas in meinem Herzen. Prioritäten werden neu geordnet.
Wer auf ein Ziel zugeht, verbindet gleichsam sein Herz mit diesem Ziel – wie ein Band, das zwischen mir und dem Ziel ausgeworfen und mit beidem verknüpft wird. Nach der Umkehr in der Mitte wird dieses Band nun an einem anderen Ziel festgebunden, nämlich an der Tür meines Zuhauses und an allen Menschen, die dieses Zuhause bilden. In einem Bild wie dem Labyrinth sind diese beiden Reisen deutlich voneinander unterschieden, sie folgen aufeinander. Im Leben lassen sie sich nicht trennen, beide Reisen geschehen gleichzeitig.
Fast alle, die den Weg im Labyrinth zurückgehen, erzählen, dass der Rückweg einen völlig anderen Charakter hat als der Weg ins Zentrum. Manche gehen langsamer, die meisten aber rascher und beschwingter. Für viele ist es ein stillerer Weg, vor allem weil die innere Stimme weniger oft spricht als beim Hinweg. Wenn der Weg in das Labyrinth hinein der Weg zu sich selbst ist, dann ist der Weg heraus der Weg zum Du.
Das Labyrinth vollzieht beide Bewegungen nach: das Hineingehen, das Aufsteigen und Ausrichten, das Erkennen und Werden – das Hinausgehen, das Absteigen und Öffnen, das Hinsehen und Sein.
Der Weg aus dem Labyrinth heraus ist gleich lang wie der Weg nach innen. Die Zuwendung zu den Menschen, die wir lieben, verdient die gleiche Zeit, die gleiche Mühe, die gleiche Geduld wie unser Engagement für das Ziel der Mitte.
Immer wenn ich über diesen zweiten Weg nachdenke, spüre ich seine große Kraft und tiefe Bedeutung. Mir wird auch bewusst, dass ich selbst noch am Anfang dieses Wegs stehe, wie viel hier noch offen, wie viel noch möglich ist, wie klein mein Glaube und mein Vertrauen sind. Aber ich weiß, dass dieser zweite Weg zu dem führt, was letztlich wirklich zählt.