Pauline Kneissler wurde im Januar 1948 wegen Beihilfe zum Mord zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, aber schon im Dezember 1949 begnadigt und freigelassen. Danach war sie wieder als Pflegerin tätig. Auch das: unmöglich. Als die Rede auf Karl Schluch, einen anderen Täter-Mitarbeiter, kommt, wird die Betroffenheit noch größer. Der Krankenpfleger von Grafeneck war später im Vernichtungslager Belzec und nach dem Krieg wieder als Sanitäter tätig. „Natürlich habe ich, wie alle anderen, auch einmal zugesehen, wie die Kranken vergast wurden“, sagte er bei seiner Vernehmung 1962. Das Gericht sprach ihn frei. „Einmal war hier eine Gruppe von Jura-Studenten. Für die war es ganz klar, dass Schluch wieder in seinem Beruf arbeiten durfte. Schließlich war er ja freigesprochen“, erzählt Kathrin Bauer von der Gedenkstätte. Die Gruppe lacht, aber es ist eher ein verlegenes, auch ein beschämtes Lachen. Für die Gruppe ist es unvorstellbar, dass die Täter heute mit Freispruch oder Begnadigung davonkommen würden.
In einer Schublade im Freien liegt ein Buch mit den bekannten Namen der Opfer.
Foto: Klaus Franke
Später führt Kathrin Bauer aus dem Schloss hinaus über das Gelände. Es hatte der Samariterstiftung gehört, bis es 1939 in einem Handstreich von den Nazis enteignet wurde. Nach dem Krieg bekam die Samariterstiftung das Gelände zurück und siedelte wieder Menschen mit Behinderungen an. Inzwischen leben hier 60 Personen. „Sie alle wissen um die Vergangenheit dieses Ortes“, sagt Bauer. Manche würden sie ignorieren, andere seien sehr engagiert und interessiert. Mitunter schließen sie sich den Gruppenführungen an und erzählen.
Heute allerdings ist außer den Besuchern kaum jemand zu sehen. Der Wind ist noch kälter geworden, der Regen geht über in Schneeregen. Nur Heinz Flügge wartet draußen. Er wohnt in Grafeneck und verkauft für den hier ansässigen Bauernhof Eier. Als die Gruppe vorbeikommt, hält er einen kleinen Schwatz mit Kathrin Bauer. Dass hier wieder behinderte Menschen leben, löst bei den Pflegefachschülern gemischte Gefühle aus. „Einerseits ist es ein Zeichen der Hoffnung“, meint einer von ihnen. „Doch irgendwie ist es auch beklemmend.“
Grafeneck - Immer wieder kommt die Zahl 10 645
Von der alten Anlage ist außer Schloss und Friedhof nichts mehr übrig. Die Gaskammer wurde in den 1960er-Jahren abgebrochen. In der Nähe des Friedhofs liegt in einer großen Schublade ein Buch, in dem die Namen der bekannten Opfer verzeichnet sind. Doch trotz guter Dokumentation gibt es auch viele Opfer, die noch nicht identifiziert sind. Deshalb liegen auf einer Wiese Buchstaben aus Stein. Sie stehen für die Namen der Opfer, die noch nicht ausfindig gemacht wurden. Dass in Grafeneck eine Gedenkstätte errichtet wurde, hat länger gedauert. „Das Interesse, die Geschichte aufzuarbeiten, war in den 1960er-Jahren in der Bevölkerung nicht so groß“, sagt Kathrin Bauer. Erst seit 1990 gibt es die Gedenkstätte.
Mit den „grauen Bussen“ wurden behinderte und psychisch erkrankte Menschen nach Grafeneck gebracht.
Foto: Andreas Steidel
Die Zahl 10 645 begegnet der Gruppe wieder zum Schluss ihrer Führung. Jochen Meyder, ein Künstler, stellt für jeden Menschen, der in Grafeneck ermordet wurde, eine Terrakotta-Skulptur her. Um die 6000 sind es bereits. Sie werden aufbewahrt in einem Regal an der großen Fensterfront im Dokumentationszentrum. Jeder Besucher darf eine Figur mitnehmen und so quasi eine Patenschaft für eines der Opfer übernehmen. Ursprünglich war die Idee, dass erst alle 10 654 Figuren fertiggestellt sein sollten, bevor sich Besucher eine nehmen könnten. Doch das Regal reicht bei weitem nicht aus. Deshalb wird in Etappen gearbeitet; und immer, wenn das Regal leerer geworden ist, kommt Jochen Meyder vorbei und bringt weitere Skulpturen. „Wenn alle Plätze im Regal belegt sind, ist es im Dokumentationszentrum richtig dunkel“, berichtet Kathrin Bauer. Und je mehr Figuren ihren Weg von Grafeneck in die Welt finden, desto heller wird es. Ein Gedanke, der auch die Pflegefachschüler dazu animiert, eine Figur nach Weinsberg mitzunehmen. Dort soll sie eine neue Heimat bekommen.
Terrakotta Skulpturen des Künstlers Jochen Meyder im Dokumentationszentrum Grafeneck. Foto: Klaus Franke
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