Plötzlich zieht ein hölzerner Pfeil unsere Blicke auf sich: „Stiefels Stein“ ist darauf geschrieben. Am Waldrand steht er, verwittert und bemoost. „Hier wurde am 31. Januar der Bauer Johannes Stiefel erschlagen“, lesen wir. Auf der „Küche“ hatte er seinen Hof, und dort sind wir bald. Riesige Pferdekoppeln umgeben die kleine Siedlung, die ihren Namen von einem Jagdstützpunkt der Hohenzollern-Fürsten hat. Im 18. Jahrhundert haben sie ihn bauen lassen und bald komfortabler erweitert, mit einer Kapelle und eben einer Küche.
Dieses Areal wurde ebenfalls unter die Neusiedler verteilt. Für die stellte sich der fürstliche Jagdort als ein abgelegenes Loch voll Not und Elend heraus. Das Leben auf fast 900 Meter Höhe war hart, das Klima garstig, die Ernten waren karg. Hunger gab es reichlich, und das Leben war schnell vorbei.
Die Erinnerungssteine für die ermordeten Johannes Stiefel und Friedrich Stiefel sind am Rande der Strecke zu sehen. Foto: Wolfgang Albers
Wie eben das von Johannes Stiefel, der mit einem Deichselnagel erschlagen wurde, wohl von dem Knecht Jakob Egle. Das Motiv bleibt rätselhaft, die Behörden haben Egle schließlich im Kirchenstaat aufgespürt.
Aber Not fördert wohl Verbrechen. Und dieses traurige Schicksal traf die Familie Stiefel noch einmal: 50 Jahre später kam Johannes Stiefels Enkel Friedrich Stiefel gewaltsam ums Leben. Auch einer der Bauern auf der Küche. 42 Jahre alt war er, hatte mit seiner Frau Karoline, die schwanger war, bereits elf Kinder – und einen miserablen Sommer hinter sich, der einen Winter voller Hunger nach sich ziehen würde. Und hochverschuldet war er auch, nach einem Neubau des Hofes, der abgebrannt war.
Um etwas Geld zu bekommen, fuhr Friedrich Stiefel drei Fichtenstämme nach Burladingen, schickte seinen Sohn mit dem Gespann nach Hause und hockte sich ins Wirtshaus. Mit 20 Mark in der Tasche, dem noch nicht vertrunkenen Rest des Holzverkaufs, brach er im Dunkeln nach Hause auf – und kam nie an. Am nächsten Morgen, dem 6. September 1893, fand man ihn. So sehr in den Hals gestochen, dass er fast enthauptet war. Den oder die Mörder hat man nie gefunden.
Gedenkstein für Friedrich Stiefel. Foto: Wolfgang Albers
Eine Katastrophe für die Witwe Karoline, die mit ihren Kindern auf sich alleine gestellt war und vom Vogt in Hermannsdorf das eigentlich fällige Geld aus dem Armenfonds nicht bekam, sondern stattdessen einen anderen Vorschlag: Sie solle betteln. Kaum hatte Karoline ihr zwölftes Kind geboren, wurde der überschuldete Hof zwangsversteigert. Unterschlupf fand die Familie bei Friedrich Stiefels Bruder – eine Notlösung, aber auf Dauer ging das nicht.
Das Schicksal der Witwe Stiefel hatte sich mittlerweile in der ganzen Gegend herumgesprochen. Auch bei Julius Theobald, dem evangelischen Stadtpfarrer von Haigerloch. Der war auch für die kleine evangelische Gemeinde in Bietenhausen bei Haigerloch zuständig, die eine ganz besondere Geschichte hatte.
So um 1820 hatten die Bietenhäuser eine interessante Subkultur: Katholiken, die sich zu einer pietistischen Bibellesestunde trafen. Was auf die Dauer natürlich nicht gut gehen konnte und die Gruppe vor ein Entweder-oder stellte. So konvertierten im Jahr 1858 gleich 46 Personen zum evangelischen Glauben.
Nach gut 30 Jahren war diese Gruppe, deren Ideal ein keusches sündenloses Leben war, kurz vor dem Aussterben. Julius Theobald fädelte deshalb einen Deal ein: Eine Konfirmanden-Schule und ein Waisenhaus sollte die evangelische Gemeinschaft wieder beleben, und als Grundstock fasste man die große Stiefelsche Kinderschar ins Auge. Tatsächlich übersiedelte Karoline Stiefel nach Bietenhausen und wurde die erste Hausmutter dieses Projekts – aus dem dann die heutige Jugendhilfeeinrichtung Diasporahaus Bietenhausen wurde, ein großes sozialpädagogisches Unternehmen, das Kinder, Jugendliche und Familien betreut.
So hat also auch die Küche ihren Teil zur evangelischen Diakonie-Geschichte beigetragen. Heute ist die Gegend ein stilles Refugium für Reiter und Spaziergänger – vor allem aus der Region, denn die Welle der neuen Wanderwege ist noch nicht hierhin gedrungen.
Burladingen. Die Gegend ist heute ein stiller Ort für eine erholsame Wanderung. Foto: Wolfgang Albers
Bis jetzt waren wir mit dem gelben Albvereins-Dreieck unterwegs. Für eine Runde müssen wir nun uns selber orientieren. Und nehmen den breiten Forstweg, der am ersten Koppelzaun vor der Küche rechts abbiegt. Durch einen Fichtenwald, gut einen Kilometer, bis unser Weg in eine quer verlaufende Forststraße mündet, den Schwandelweg. Dem folgen wir nach rechts, wieder gut einen Kilometer. Dann treten wir aus dem Wald.
Ein Gedenkstein informiert uns, dass hier etliche Grenzen zusammenlaufen: einst die von Württemberg und Preußen, heute die zweier Landkreise und von vier Gemeinden. Eine ist Bitz, die sehen wir vor uns, vor allem aber eine riesige freie Fläche mit Äckern und Weiden. Da hinein laufen wir auf einem Wiesenweg, mit einem leichten Rechtsschwenk. Wenn der große Hof vor uns, der Schwantelhof, zu unserer Linken bleibt, sind wir richtig. Wir sehen steinige Äcker und einen hohen Himmel. Nach wieder gut einem Kilometer rahmen die ersten Waldstücke uns links und rechts ein. Bald kommen wir an eine kleine Straße, die Hermannsdorfer Straße. Wir schwenken rechts ein und sind dann wieder nach gut einem Kilometer zurück am Start.
Wer mit dem Auto unterwegs ist und die Straße nach Burladingen zurückfährt, kann auf der Hälfte in den Parkplatz Ziegelhütte fahren. Das ist der Ort, an dem der arme Friedrich Stiefel starb. Auch hier erinnert ein Gedenkstein an ihn und seine Familie. Und legt Wert darauf, dass nicht alles schlecht endete: „In Bietenhausen haben die Kinder ein Handwerk gelernt und später in unserer Gegend Familien gegründet.“ □