Diese unsichtbare Mauer ist wie eine Schere und setzt sich in den Gedanken fort: Zurück in Deutschland überlegte ich kurz, ob mir ein China-kritisches Masterarbeitsthema berufliche Chancen verbauen oder die erneute Einreise in das Land erschweren könnte. Doch letztendlich wollte ich mich nicht einschränken lassen.
Die meisten meiner deutschen Altersgenossen haben noch nie in einer Diktatur wie China gelebt. Sie können wohl kaum persönliche Erfahrungen mit den historischen Berichten über die DDR verbinden. Aber gibt es nur in Diktaturen Mauern? Keineswegs!
Griechenland hat in diesem Jahr mit einer 27 Kilometer langen, fünf Meter hohen Anlage die Grenze zur Türkei am Fluss Evros gegen die Ankunft von Asylsuchenden befestigt. An einer anderen Grenze, im Mittelmeer, steht zwar keine Mauer, aber die Patrouillen der staatlichen Küstenwachen sowie der Grenzschutzbehörde Frontex erfüllen oft genau diesen Zweck.
Über 600 Menschen starben in Deutschland zwischen 1961 und 1989 beim Versuch, die Grenzanlagen der DDR zu überwinden und in die Bundesrepublik zu fliehen. Schätzungen des statistischen Bundesamts zufolge sind im Mittelmeer bisher über 900 Menschen auf ihrer Flucht ertrunken – allein im Jahr 2021. Der Vergleich hinkt, weil es sich beim Todesstreifen der DDR um die gezielte Tötung mit Schießbefehl handelte. Aber was an den EU-Außengrenzen gemacht wird, lässt sich in einigen Fällen mindestens als unterlassene Hilfeleistung bezeichnen, wenn nicht sogar als aktive Gefährdung der Geflüchteten.
Foto: Dimitri Wittmann, pixabay
Ich finde es schrecklich, dass Lebensretter im Mittelmeer sich zum Teil wie Kriminelle verantworten müssen. Fluchthelfer aus der Bundesrepublik, die DDR-Bürgern in die Freiheit halfen, werden dagegen als Helden dargestellt – zurecht! Genauso müsste man die Lebensretter im Mittelmeer wertschätzen.
Der 60. Jahrestag des Mauerbaus sollte eine Erinnerung sein, dass Grenzen und Mauern noch heute allgegenwärtig sind. Nicht nur in Diktaturen, sondern auch in Demokratien. Dass wie damals in der DDR auch noch heute viele Menschen auf der Welt in ihrer Meinungs- und Bewegungsfreiheit beschränkt sind und einige auf der Suche nach diesen Freiheiten ihr Leben lassen. Für uns, für die diese Rechte selbstverständlich wirken, ist der Mauerbau vor 60 Jahren also heute noch aktuell: Wir haben nicht nur das Privileg, sondern auch die Verantwortung, die Grenzen und Mauern von heute in Frage zu stellen – damit wir unsere Freiheiten behalten und irgendwann auch der Rest der Welt in ihren Genuss kommen kann. □