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Arolsen Archives

Abschiedsbriefe von NS-Verfolgten sollen endlich ans Ziel kommen

Im Münchner Staatsarchiv lagern rund 50 Abschiedsbriefe von NS-Verfolgten aus dem Gefängnis Stadelheim. Ein neues Projekt mit den Arolsen Archives will nun die Angehörigen finden. Von Christine Ulrich (epd)

Auf dem Bild sind handgeschriebene Abschiedsbriefe von Häftlingen aus den NS-Todeszellen in Stadelheim zu sehen, sowie beschriftete Briefumschläge
Pressebild/Elisabeth Miletic, Bayerisches Hauptstaatsarchiv
Abschiedsbriefe aus den NS-Todeszellen in Stadelheim

„Bei manchen Briefen schießen einem die Tränen in die Augen”, sagt der Historiker Alexander Kor. Etwa bei dem des Häftlings Nikolaus Segota an seine geliebte Anna:

Mein Erdenwallen ist zu Ende. Mein Lebenstraum ist ausgeträumt. Mein Lebensschritt hat sein Ziel erreicht. Mein Dasein endet morgen früh um 5 Uhr

schrieb der Häftling Nikolaus Segota

Am 25. Mai 1943 wurde Segota hingerichtet, im Gefängnis München-Stadelheim. Sein Brief erreichte nie sein Ziel – wie so viele Abschiedsbriefe von NS-Häftlingen. Eine neue Forschungskooperation soll das nun ändern.

Die Arolsen Archives sind das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit größten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. 

Sie geben Auskünfte über NS-Verfolgte, sichern den Erhalt des Archivs für die nächsten Generationen und sind fester Bestandteil der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Geschichte und ihrer Auswirkungen im internationalen Kontext.

Abschiedsbriefe von NS-Häftlingen sollen endlich zu den Angehörigen

Im Projekt „lost words” (englisch: verlorene Worte) arbeiten die Staatlichen Archive Bayerns mit den internationalen Arolsen Archives zusammen, dem weltweit größten Archiv zu nationalsozialistischer Verfolgung im nordhessischen Bad Arolsen. Am Mittwoch stellten sie das Projekt in München vor: Mehr als 50 Abschiedsbriefe von zum Tode verurteilten Gefangenen wurden bearbeitet und digitalisiert. „Wir wollen den Hingerichteten Namen und Stimme verliehen”, sagte der Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns, Bernhard Grau. Vor allem aber gelte es, die Adressaten oder weitere Angehörige zu finden und ihnen die Briefe einsehbar zu machen.

Familienmitglieder in ganz Europa gesucht

Im Staatsarchiv München werden seit 1975 die 844 Hinrichtungsakten aus Stadelheim verwahrt. Mit mehr als 1000 Guillotinierungen sei die heutige Justizvollzugsanstalt damals eine der zentralen NS-Hinrichtungsstätten gewesen. Die Akten sind laut Staatsarchivleiter Julian Holzapfl seit langem für wissenschaftliche und private Recherchezwecke frei zugänglich.

Die Kooperation mit den Arolsen Archives soll nun dazu dienen, biografische Informationen zu ergänzen und nach Familienmitgliedern in ganz Europa zu suchen. Die Briefe, die auch Historiker Korb intensiv gelesen hat, stammen überwiegend von deutschen, aber auch von polnischen, französischen, tschechischen, italienischen und slowenischen Häftlingen zwischen 20 und 81 Jahren.

Emotionale Dokumente der NS-Zeit

Manche Briefe sind persönlich und intim, auch verzweifelt - andere enthalten politisch „drastische Worte”, wie die Direktorin der Arolsen Archives, Floriane Azoulay, sagt. Besonders eindrücklich findet sie den Brief zweier junger Franzosen, inhaftierte Zwangsarbeiter, die ihn an den „Diktator” – statt „Direktor” – der Haftanstalt richten. Laut Azoulay schreiben sie, „in eurem Land wird man umgebracht, weil man etwas gestohlen hat”. Viele Briefe zeigten „Würde und Haltung”, sagt Azoulay. Wenn Familien erführen, dass ihre Angehörigen Widerstand geleistet hätten, seien sie oft stolz.

Den Verurteilten ihren letzten Wunsch erfüllen

Wer in der Todeszelle saß, musste das Briefeschreiben beantragen. Das sei wohl zumeist gewährt worden, sagt Holzapfl. Doch abgeschickt wurden die 50 Briefe nie, weil die damalige Gefängnisverwaltung und die Strafvollzugsstellen sie zurückhielten. Holzapfl vermutet, dass sie „bei jedem Anflug von Kritik” am NS-System einkassiert wurden. Warum das Staatsarchiv selbst bisher nie versucht hat, die Briefe an ihr Ziel zu bringen? Es seien schlichtweg zu viele Akten, um das zu schaffen, sagt Holzapfl. Mit dem Projekt gebe es nun „die passende Form”. Losgetreten worden war das Projekt durch einen Bericht im Bayerischen Rundfunk.

Nun die Angehörigen zu suchen heißt, den zu Unrecht Verurteilten ihren letzten Wunsch zu erfüllen

sagt Floriane Azoulay

Für die Familien, ihr Selbstverständnis und ihre gemeinsame Geschichte, könne das ungeheuer wichtig sein. Projektleiterin Anke Münster von den Arolsen Archives ist „sehr optimistisch”, schnell Fortschritte zu machen. Seit April läuft die Suche, nun stehe man bereits mit zwei Familien kurz vor der Kontaktaufnahme.