Am 1. Oktober 1905 erschien die erste Ausgabe des Evangelischen Gemeindeblatts. Vier Seiten hatte es damals, das Jahresabonnement kostete eine Mark. Daraus ist, gerechnet nach verkaufter Auflage, die größte evangelische Kirchengebietszeitung in Deutschland geworden. Mit einer wechselvollen Geschichte und einer illustren Runde von Chefredakteuren, zu denen sogar der spätere Landesbischof Theophil Wurm gehörte.
Schon seit Jahren besteht in kirchlichen Kreisen unserer Stadt der lebhafte Wunsch nach einem besonderen evangelischen Gemeindeblatt, in welchem Fragen des kirchlichen Lebens eine eingehendere Behandlung erfahren könnten.
Mit diesen Worten eröffnete das „Evangelische Gemeindeblatt für Stuttgart“ vor rund 120 Jahren seine Berichterstattung. „Evangelisches Gemeindeblatt für Stuttgart“: So hieß die neue Kirchenzeitung zunächst, denn es sollte noch ein Weilchen dauern, bis sich andere Gemeinden außerhalb der Hauptstadt anschlossen und daraus schließlich ein Evangelisches Gemeindeblattgemeinde für ganz Württemberg wurde.
Nach drei Jahren hatten sich immerhin schon 175 Gemeinden angeschlossen, denn um die ging es von Anfang an: Keine erbauliche Sonntagszeitung wie die das schon viel ältere „Stuttgarter Evangelische Sonntagsblatt“ wollte man sein, sondern eine geistliche Informationsschrift für die Basis.
Das Stuttgarter Sonntagsblatt sollte dann viel später noch einmal eine Rolle spielen: 1972 wurde es nämlich dem Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg zugeschlagen, mit einem erfreulichen Zugewinn an Auflage. Noch heute kann man deshalb auf der Titelseite des Evangelischen Gemeindeblatts auch den kleinen Schriftzug „Stuttgarter Evangelisches Sonntagsblatt“ erkennen.
Das Gemeindeblatt entwickelte sich zunächst auch so ganz prächtig. Spätestens unter Pfarrer August Hinderer, Schriftleiter von 1908 bis 1918, kamen nun auch soziale Probleme, Erziehungsthemen und politische Fragen zur Sprache. Zuvor hatte es einen Schriftleiter gegeben, der aufgrund seiner kurzen Verweildauer von nur einem Jahr (1907-1908) zwar nicht das Gemeindeblatt prägte, wohl aber später die Landeskirche: Auch Theophil Wurm, Landesbischof von 1929 bis 1948, gehörte als junger Pfarrer zu denen, die an der Spitze der neuen Kirchengebietszeitung standen.
Das gab dem Gemeindeblatt Relevanz, es wurde zum wichtigsten öffentlichen Forum der evangelischen Kirchenwelt in Württemberg. So brachte dort 1957 der bekannte Pfarrer Julius von Jan erstmals seine Geschichte zu Papier. Eine Geschichte des mutigen Widerstands am Buß- und Bettag 1938, als Fürsprecher der Juden hatte man ihn schwer misshandelt und ins Gefängnis gesteckt. Aus dem Gemeindeblatt erfuhren die Württemberger erstmals davon.
Es war zwischenzeitlich eine vielseitige Publikation mit einem Bild auf der Titelseite und weiteren Fotos im Innenteil. 1960 wurde dann der erste Titel in Farbe gedruckt, passend zur bunten Frühlingszeit am Pfingstsonntag.
Die neuen Themen der Zeit erfassten allmählich auch die Kirchenzeitung: Fernsehen, Verstädterung, Atomgefahr, Ehekrisen und Scheidungen. Die heile Wirtschaftswunderwelt bekam Risse und das spiegelte sich auch im kirchlichen Leben wieder, wo übrigens noch immer ausschließlich die Männer das Sagen hatten: Erst 1968 wurde in Württemberg die erste Pfarrerin ordiniert.
Publizistische Professionalität sollte in einer sich rasant ändernden Medienwelt nun eine immer größere Rolle spielen. Auch das Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg hat mit Auflagenrückgängen zu kämpfen. Die Kirchenbindung schwindet und die Menschen lesen immer seltener eine gedruckte Zeitung.
Dennoch ist das Blatt nach verkaufter Auflage noch immer die größte evangelische Kirchengebietszeitung in Deutschland. Mit knapp 30.000 Abonnenten und einem Vielfachen an Leserinnen und Lesern bleibt die Relevanz hoch. Was im Gemeindeblatt steht, macht in kirchlichen Kreisen schnell die Runde.
Seit 1. Januar 2019 ist das Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg Teil des Evangelischen Medienhauses der Landeskirche. Ein Übergang von einem diakonischen Träger (Evangelische Gesellschaft) zu einem publizistischen Unternehmen, in dem das Gemeindeblatt die wichtige Rolle des Printproduktes übernimmt.
Die gedruckte Zeitung als Baustein eines Gesamtkonzeptes im engen Zusammenspiel mit anderen Informationsangeboten wie Radio, Fernsehen, Multimedia und Internet – das ist das, worauf es heute ankommt. Das Gemeindeblatt bleibt dabei eigenständig, zugleich aber eingebettet in ein publizistisches Informationsangebot der Kirche, das auf der Höhe der Zeit ist.
Dafür sorgt seit 2019 mit Tobias Glawion auch ein Chefredakteur, der allen Redaktionen des Medienhauses vorsteht. Das Gemeindeblatt, daran lässt er keinen Zweifel, ist für ihn ein unverzichtbarer Kernbestandteil eines publizistischen Angebots, das sich heute wie damals den Menschen in den Kirchengemeinden verpflichtet fühlt.
Im September 2023 ist die Redaktion des Gemeindeblattes mit den Redaktionen des Medienhauses in einen gemeinsamen Newsroom gezogen.
von Andreas Steidel