Der Himmel ist wie blankpoliert an diesem Montagvormittag in der Stuttgarter Innenstadt. Vor der Kulisse des Schlossplatzes und auf den Nebenplätzen gönnen sich viele Menschen im Schatten der wärmenden Sonne einen Kaffee zum Auftakt des Tages.
Doch das erste Ziel von Clemens Matern liegt abseits der gängigen Einkaufsstraßen, nämlich vor dem Gewerkschaftshaus an der Theodor-Heuss-Straße. „Hier ist ein beliebter Platz für Obdachlose“, sagt der 39-Jährige und zeigt auf ein kleines unauffälliges Häuschen. Matern ist als Fundraiser bei der Evangelischen Gesellschaft zuständig für den Bereich „Freunde und Förderer“ und bietet zusammen mit Laura Helmle Sozialspaziergänge („Social walks“) durch die Stuttgarter Innenstadt an.
Der Platz am Abluftschacht, auf den Matern verweist, ist alles andere als anheimelnd und gemütlich – ein paar Glasscherben liegen dort verstreut, im Hintergrund dröhnt der Lärm der vorbeirauschenden Autos. Doch „die warme Luft, die von unten hochsteigt, wärmt im Winter angenehm“, erklärt Matern. Wohnungslose Menschen, die auf der Straße leben, würden hier allerdings lieber tagsüber schlafen als nachts. „Da ist man sicherer und nicht schutzlos, etwa den Attacken angetrunkener Jugendlicher, ausgeliefert.“
Rund 5000 Menschen sind derzeit in Stuttgart ohne Wohnung. Es sind zwei gänzlich unterschiedliche Lebensrealitäten, die mitten in der Innenstadt existieren – und normalerweise selten aufeinandertreffen. Das ändert sich bei den Sozialspaziergängen, die von dem ehemaligen eva-Vorstandsvorsitzenden Heinz Gerstlauer vor Jahrzehnten ins Leben gerufen wurden. Damals wurden die Führungen vor allem Firmeninhabern und Menschen mit Einfluss und Vermögen angeboten, um ihnen die Not, aber auch die Vielfalt der Hilfen in Stuttgart vor Augen zu führen. Ein exklusiver Kreis, für den die nächtlichen „Social Walks“ einmal im Jahr stattfanden. Heute ist die Zielgruppe vor allem Konfirmanden; die Nachfrage von Kirchengemeinden an dem Angebot ist groß. Aber auch für Firmenmitarbeiter werden Führungen angeboten, sie können sich sogar aktiv am Programm beteiligen und zum Beispiel für Obdachlose kochen.
Das Ziel ist heute wie früher immer noch dasselbe: „Die Stadt aus einem anderen Blickwinkel erleben“, so beschreibt es Clemens Matern. Wer nicht selbst davon betroffen ist, beschäftigt sich normalerweise kaum mit Themen wie Sucht, Armut und Wohnungslosigkeit. Umso wichtiger sei es, betroffene Menschen in den Fokus zu rücken, „denn ihnen fehlt es an Lobby, um sichtbar zu sein“.
Auch wenn die Eindrücke in der Stadt vor allem für junge Menschen, die von außerhalb kommen, erschlagend sind: Viele zeigen sich berührt, wenn sie an die Orte abseits der Vorzeigeplätze in Stuttgart geführt werden. „In ihrer Welt gibt es solche Themen kaum“, sagt Matern. „Und so erfahren sie auch, wohin sie sich wenden können, wenn sie etwa durch eine Krise selbst einmal am Rande der Gesellschaft landen.“ Die Sozialspaziergänge finden bei jedem Wetter statt – „von minus 20 bis plus 35 Grad hatten wir schon alles dabei“, sagt Clemens Matern, der seit rund zehn Jahren die „Social Walk“-Führungen macht.
Weiter geht es an diesem spätsommerlichen Vormittag in Richtung Marktplatz, dessen unterirdischer Bunker nach dem Zweiten Weltkrieg als Unterkunft für wohnungslose Menschen diente. An dieser Stelle informiert der eva-Mitarbeiter gerne darüber, was etwa mit Menschen passiert, die ihre Miete nicht mehr zahlen können und plötzlich ohne Dach über dem Kopf dastehen.
Dann rücken plötzlich menschliche Grundbedürfnisse in den Mittelpunkt, über die man sich sonst im Alltag keine Gedanken macht: Wo gibt es Toiletten? Was kaufe ich mir zu essen, wenn es keinen Kühlschrank gibt, um Lebensmittel länger aufzubewahren? Wo kann ich mich waschen und meine Kleidung austauschen? Bei der Evangelischen Gesellschaft nutzen im Schnitt 20 Menschen am Tag die angebotenen beiden Duschen. Dort erhalten sie auch saubere Kleidung, die etwa von Firmen gespendet wird.
Ein paar Schritte weiter, beim Gang durch die Breuninger-Passage und im Dorotheenquartier, rückt das Thema Geld in den Mittelpunkt. Auf einer Tafel eines Szene-Cafés werden den Konsumenten Trüffelpommes angepriesen.
Nicht nur der Preis solcher kulinarischen Angebote schreckt bedürftige Menschen davon ab, sich an diesen Plätzen aufzuhalten. Es gibt auch keine öffentlichen Toiletten, dazu kaum Bänke – die wenigen Sitzgelegenheiten sind absichtlich so unbequem gebaut, dass sie längeres Verweilen nahezu unmöglich machen. Auch die in Endlosschleife laufende Musikbeschallung in Passagen oder an den Eingängen der Kaufhäuser „soll die Leute dazu animieren, weiterzugehen“, sagt Matern. Hinzu kommen neue Mülleimer, die so tief sind, dass Flaschensammler kaum noch an den Glasabfall rankommen. Und ein Sicherheitsdienst, der dafür sorgt, dass keine Bettler die Einkaufenden belästigen.
Armut inmitten des Konsumzentrums ist nicht gewollt, darauf weist Clemens Matern nüchtern hin. Er versteht beide Seiten und ihre Interessen. Wie man mit bettelnden Menschen umgehen soll, auch das ist immer wieder Thema bei den Sozialspaziergängen. Matern empfiehlt dann, auf sein Gefühl zu hören. „Das eigene Herz entscheidet am besten.“ Das Argument, das Geld würde nur in den Konsum von Alkohol gesteckt, lässt er dabei nicht gelten. Denn so lasse sich dieser wenigstens auf legalem Wege besorgen.
Neben der Leonhardskirche, in der zur kalten Jahreszeit regelmäßig die Vesperkirche stattfindet, und der eva-Schuldnerberatung ist auch das „Café Strichpunkt“ in der Jakobstraße Station beim „Social Walk“. Die Anlaufstelle im Stuttgarter Leonhardsviertel bietet Menschen, die in der Prostitution tätig sind, einen Zufluchtsort. Die Mitarbeiter, die dort arbeiten, setzen sich für deren Gesundheit und ein selbstbestimmtes Leben ein.
Viele der betroffenen Frauen sind verschuldet, erzählt Matern, sie verfügen über keine Sozialversicherung. Dass in Zukunft das Bohnenviertel bordellfrei werden soll, erschwere entsprechende Schutzangebote. „Vieles wird sich dann in Privaträume verlagern, was die eigentlichen Probleme nicht löst.“
Wie hier im Leonhardsviertel liegt in Stuttgart aufgrund der Kessellage alles nah beieinander. Doch trotzdem sind die meisten sozialen Brennpunkte nur wenig sichtbar und es wird viel dafür getan, dass sie von den Stadtbesuchern nicht wahrgenommen werden. Dem sollen Angebote wie der „Social Walk“ und entsprechende Hilfeangebote entgegenwirken. „Wir wollen Menschen ihre Würde zurückgeben, auch in schlimmen Situationen“, sagt Clemens Matern.
Jeder Mensch ist eine von Gott geliebte Person, die man annehmen sollte – so wie sie ist.
sagt Clemens Matern
Viele Betroffene am Rande der Gesellschaft würden sich nach unzähligen Behördengängen nur noch als Nummer fühlen. „Ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, ohne Vorwürfe, das ist entscheidend.“
Oft gibt er den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf den Führungen zum Abschluss mit, „dass es immer eine persönliche Geschichte hinter jedem Schicksal gibt und es jeden treffen kann“. Und er sensibilisiert dafür, dankbar zu sein, auch für Kleinigkeiten. „Jeder Mensch ist eine von Gott geliebte Person, die man annehmen sollte – so wie sie ist.“