Autismus

Autismus: An den Rand gedrängt

Was Autismus genau ist, wissen Außenstehende meist nicht. Der Autist Andreas Croonenbroeck gibt einen Einblick in sein Leben. Von Peter Heinrich

Kind streckt seine Hand in die Kamera
epd-bild/Meike Boeschemeyer
Ein autistisches Kind in der Abwehrhaltung.
Andreas Croonenbroek sitzt im Garten
Foto: Peter Heinrich
Andreas Croonenbroek ist Autist – erst mit Ende 30 wurde er diagnostiziert.

Ein blinkender WLAN-Router, eine tickende Uhr an der Wand und das Rauschen der Blätter am Baum vor dem Fenster – für ein autistisches Kind kann dies bereits eine Überforderung darstellen. Autisten nehmen Sinnesreize verstärkt wahr und verarbeiten sie völlig anders als „neurotypische Menschen“. So nennen Fachleute die „Normalos“, sagt Andreas Croonenbroeck. Der 47-jährige Journalist, Grafikdesigner und Buchautor aus dem Landkreis Tübingen muss es wissen, vor zehn Jahren hat er selbst die Diagnose bekommen.

Schon im Kindergarten ausgegrenzt

Den Weg dahin beschreibt er als schwierig und grauenhaft. „Ich habe eigentlich von klein auf gewusst, dass mit mir etwas nicht stimmt“, erklärt er ganz offen. Bereits im Kindergarten begann für ihn der Horror. Er wurde dort von den Eltern abgegeben und hatte das erste Mal Kontakt zu Gleichaltrigen. Die anderen Kinder machten ihm Angst, er hat aus Leibeskräften geschrien und geheult.

Die Erzieherinnen haben mich mit einem Tisch und Stuhl in den Flur gesetzt und zwei Gläser vor mich hingestellt.

sagt Andreas Croonenbroeck

Wenn er die Gläser vollgeweint habe, dürfe er nach Hause. Diese Szene steht ihm nach über 40 Jahren immer noch vor Augen.

Die Zeiten haben sich geändert. Heute wird Kindern, neurotypisch oder nicht, die Eingewöhnungszeit im Kindergarten leichter gemacht. Aber immer noch fehlt es vielen Erzieherinnen, Lehrern und Psychiatern am Wissen für den Umgang mit autistischen Kindern. Das führt sehr schnell zur Ausgrenzung.

Auch die weitere Kindergartenzeit war für den kleinen Andreas kein Zuckerschlecken. „Ich war eigentlich nie mit den anderen Kindern zusammen, eher der stille Beobachter am Rande.“ Er habe oft den Kindern erklärt, so Croonenbroeck weiter, wie sie es zum Beispiel in der Bauecke besser machen könnten. Das hat auch nicht zu seiner Beliebtheit beigetragen. Auch in der Schule tat er sich schwer. Den Kontakt zu Gleichaltrigen hätte er sich gewünscht, er kam aber nie richtig zustande.

Ich konnte nicht unterscheiden, ob sie es ernst mit mir meinen oder ob sie einen Scherz mit mir treiben.

sagt Andreas Croonenbroeck

Gefahr für Autisten bei Mutproben

Das machte ihn schnell zum Opfer. Auch fehlte ihm die Fähigkeit, gefährliche Situationen richtig einzuschätzen. Dann sind autistische Kinder, gerade wenn es in der Clique um Mutproben geht, ausgeliefert. Durch sein sonderbares Verhalten unterstellte man ihm Schulangst, Prüfungsangst und alle möglichen anderen Ängste. Eine Verhaltenstherapie schlug nicht an, er entwickelte zudem eine Depression.

Diagnose Autismus mit 37 Jahren

Erst mit 37 Jahren – ein neuer Psychiater hatte sich in Tübingen niedergelassen – begann für ihn die Wende. „Ich wollte einen letzten Versuch starten, mein Leben in den Griff zu bekommen“, beschreibt er seine Motivation.

Nach einem langen Anamnesegespräch verdichtete sich die Diagnose: Autismus! Jedoch ist die Diagnosestellung bei Erwachsenen besonders schwierig, weil sie gelernt haben, ihre Besonderheiten zu überspielen. Dabei gilt Autismus als angeboren, schon in frühen Zeiten müssen die spezifischen Eigenheiten nachweisbar sein. Deshalb werden für die Erwachsenenanamnese Menschen hinzugezogen, die den Betroffenen schon sehr lange kennen.

Bei Andreas Croonenbroeck waren das zwei enge Freunde aus Kindertagen. Und tatsächlich: Aus dem Verdacht wird Gewissheit, er gehört zum autistischen Spektrum.

Ich war so dankbar, endlich eine Diagnose zu haben, mit der ich etwas anfangen konnte

berichtet Andreas Croonenbroeck

Berufliches und privates Engagement für Autismus

Inzwischen ist der erfolgreiche Grafikdesigner Andreas Croonenbroeck in seinem Leben angekommen. Er entwirft für namhafte Firmen Imagebroschüren und Internetauftritte. Überdies ist er Chefredakteur und Grafiker der Zeitschrift „Autismus verstehen“.

Andreas Croonenbroeck
Fotos: Peter Heinrich
Andreas Croonenbroeck an seinem Arbeitsplatz.

Mit seinem 18-jährigen Pflegesohn, ebenfalls ein Autist, lebt er in der Nähe von Tübingen. Die Wohnung ist aufgeräumt, gemütlich eingerichtet, keinesfalls steril, und der große Garten bietet einen schönen Rückzugsort zur Entspannung. „Ich habe mir gar nicht vorstellen können, mit einem anderen Menschen eng zusammenzuleben“, erklärt der 47-jährige, „aber da mein Pflegesohn auch Autist ist, passt es ganz gut.“

Er lasse ihm seine Ruhe und umgekehrt sei es genauso. Gerade daran seien die Beziehungen, die er vor der Diagnosestellung hatte, meistens zugrunde gegangen. Er habe, so Croonenbroeck, die emotionalen Signale seiner Partnerinnen nicht richtig deuten können.

Leben autismusfreundlich Gestalten

Schon vor der Diagnosestellung hatte er sein Leben so eingerichtet, dass er einigermaßen zurechtkommt. Bereits 2002 machte er sich mit seinem Kreativbüro selbständig. So hat er die Ruhe, die er braucht, und kann seine Arbeit frei gestalten. Ständige Meetings und der dadurch entstehende soziale Druck seien für ihn eine Horrorvorstellung.

Am liebsten kommuniziert er per E-Mail, telefonieren geht auch, macht ihm aber häufig Probleme, weil er dann spontan reagieren muss. „Manchmal geht das überhaupt nicht“, sagt er offen, „dann verschiebe ich es auf später oder versuche es per E-Mail zu klären.“ Er habe gelernt, Wege zu finden, manchmal auf unkonventionelle Weise, wie er seine Dinge erledigen kann. Das sei die besondere Fähigkeit von vielen Autisten.

Sie sind ja nicht doof, nur weil sie vielleicht nicht sprechen können oder auf eine andere Weise kommunizieren.

sagt Andreas Croonenbroeck

Deshalb ärgert es ihn sehr, wenn Menschen im autistischen Spektrum immer als defizitär angesehen werden. So habe sogar die Spitzenkandidatin der FDP, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, im Europawahlkampf Bundeskanzler Olaf Scholz autistische Züge nachgesagt. Das war bestimmt nicht als Kompliment gemeint.

Auch deshalb setzt sich Andreas Croonenbroeck als Chefredakteur der Zeitung „Autismus verstehen“ und als Buchautor für die Belange von Menschen im autistischen Spektrum ein. Er wünscht sich mehr Verständnis für diesen Personenkreis, denn er ist überzeugt: Wenn die Bedingungen so verändert werden, dass Autisten Freiräume bekommen, in denen sie ihr Potenzial entfalten können, profitieren alle davon.