Autismus

Autismus ‒ was ist das?

Nach konservativen Schätzungen ist weltweit mindestens ein Prozent der Bevölkerung von Autismus betroffen. Die ­Psychologin Monika Lang leitet das Institut für Rehabilitationspsychologie und Autismus (IRA) in Gießen.
Von Peter Heinrich

Frau spielt mit einem Kind an einem Tisch
Unsplash+/Lia Bekyan
Monika Lang
Pressebild
Monika Lang leitet das Institut für Rehabilitationspsychologie und Autismus.

Autismus ist eine komplexe persönliche Beeinträchtigung mit einer starken genetischen Basis.

definiert Monika Lang das Phänomen

Inzwischen gehe die Wissenschaft von 70 Prozent genetischen Faktoren und ungefähr 30 Prozent Umwelteinflüssen aus. Wobei damit nicht irgendwelche problematischen Erziehungsstile gemeint sind, wie Monika Lang es ausdrückt.

Die These von den emotional zurückhaltenden Eltern, den „Kühlschrankmüttern“, denen lange Zeit ein negativer Einfluss auf die Entwicklung des Autismus unterstellt wurde, sei inzwischen widerlegt. Vielmehr deute vieles auf Viruserkrankungen wie Röteln in der Schwangerschaft oder Sauerstoffmangel während der Geburt hin, die Autismus förderten.

Eltern autistischer Kinder oft alleingelassen

Eltern von autistischen Kindern sind, so Monika Lang weiter, mit der Situation oft alleingelassen, weil nicht selten erst spät eine Diagnose erstellt wird – manchmal erst im Erwachsenenalter. Sie haben keine Orientierung, weil sie das Verhalten ihres Kindes, das so verschieden ist von dem der Gleichaltrigen, nicht deuten können. Autismus sei eben eine tiefgreifende neurologische Entwicklungsstörung.

Hilfestellung ist bei Autismus wichtig

Ohne Hilfestellung bestehe die Gefahr, dass die Hauptperson zusätzliche Krankheitsbilder entwickle. Monika Lang: „Sie erlebt, dass ihr Leben nicht funktioniert, und das kann zu Depressionen, Angst-, Zwangs- und Essstörungen sowie zu Selbst- und Fremdverletzungen führen. Auch sind sie durch ihr ungewöhnliches Verhalten einem erhöhten Risiko von Mobbing ausgesetzt, das zu traumatischen Störungen oder Suizidversuchen führen kann.“

Autismus-Forschung entwickelt sich weiter

Inzwischen unterscheide die Wissenschaft nicht mehr zwischen frühkindlichem Autismus, Asperger-Syndrom und atypischem Autismus, sondern es sei nunmehr von Autismus-Spektrum-Störungen die Rede, so die Expertin. So gebe es Menschen, die hypo-, und andere, die hypersensibel seien. Die einen nähmen Umweltreize nur eingeschränkt wahr, die anderen seien sensorisch überbelastet. Bei Letzteren könne eine flackernde Neonröhre, die auch noch Geräusche mache, bereits massive Schmerzzustände auslösen.

Lorna Wing, eine inzwischen verstorbene britische Autismusforscherin, hat die Verhaltensweisen von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen in drei Kategorien eingeteilt:

  • sozial zurückgezogen
  • sozial passiv
  • sozial aktiv, aber merkwürdig

Der sozial Zurückgezogene entspricht laut Monika Lang dem Typus, unter dem man sich landläufig einen Autisten vorstellt. Der sozial passive Mensch bringe wenig Initiative, macht aber nach Aufforderung bei allem mit, auch wenn es ihm keine Freude bereite oder ihn sogar in Gefahr bringe.

Mädchen sitzt an einem Tisch und betrachtet ein Buch
Unsplash+/Lia Bekyan
Sozial zurückgezogene Autisten sind gerne für sich alleine.

Der aktive, aber merkwürdige Autist verhalte sich oft skurril. „Ich kenne einen Klienten schon seit seiner Kindergartenzeit. Er hat sehr intensiv das Gespräch mit Gleichaltrigen gesucht“, sagt Monika Lang. Allerdings seien seine Themen griechische Heldensagen und die „Titanic“ gewesen. Dabei habe ihn die Art der Zahnbürsten an Bord besonders interessiert. „Das Ergebnis war klar.“ Der Kontakt kam nicht zustande.

Soziales Verhalten für Autisten schwer

Die besondere Herausforderung für Autisten sei, dass sie soziales Verhalten nicht intuitiv verinnerlichen, sondern lernen müssten wie andere eine Fremdsprache. Das beinhalte natürlich einen immensen zusätzlichen Kraftaufwand. Dies führe nicht selten zur Überforderung und zu Überreaktionen.

Deshalb kommen allen Bezugspersonen, vor allem aber den Schulbegleiterinnen und begleitern, auf die Kinder und Jugendliche mit der diagnostizierten Autismus-Spektrum-Störung Anspruch haben, eine wichtige Bedeutung zu. Sie seien, so die Psychologin, soziale Dolmetscher in beide Richtungen.

Die evangelische Paulinenpflege in Winnenden betreibt eine Grundschule für Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen und Berufliche Vollzeitschulen. Wer im Berufsbildungswerk eine der 30 möglichen Ausbildungen absolviert, wohnt im Internat. Das Angebot reicht vom Gärtner über die Fachinformatikerin bis zum Tischler oder Fachpraktiker für Holzverarbeitung und zur Mediengestalterin.

Die jungen Leute werden auch in ihrer Selbstständigkeit gefördert und pädagogisch betreut. Wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben, begleitet die Paulinenpflege sie bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. Außerdem bietet die Einrichtung eine Studienbegleitung für Menschen mit Autismus an. Zur Paulinenpflege gehört zudem das Beratungszentrum für autistische Menschen in Stuttgart.