Welche Gemeinde würde einen Pfarrer akzeptieren, der im Gottesdienst zum Radebrechen gezwungen ist, weil er nicht in seiner Muttersprache predigt und mindestens 75 Prozent seines Dienstes in einer anderen Sprache geschehen? Für Gehörlose ist dies das Normale.
In Norwegen ist die Gehörlosenkirche „Døvekirken“ (Kirche der Tauben) ist als eigener landesweiter Kirchenkreis organisiert, der dem Bistum Oslo untergeordnet ist. Es gibt acht Gehörlosengemeinden, die meisten mit eigenen Kirchen, und viele Predigtstätten, an denen im ganzen Land Gottesdienst nach einer eigenen gebärdensprachlichen Liturgie gefeiert wird.
Etwa die Hälfte der Pfarrer und Katecheten sind inzwischen Muttersprachler, also selbst gehörlos oder Kinder von Gehörlosen. Hörende Mitarbeiter müssen berufsbegleitend eine Gebärdensprachausbildung absolvieren. Diese entspricht dem ersten Jahr der dreijährigen Vollzeitausbildung für Gebärdendolmetscher. Gebärdensprachlichen Muttersprachlern wird als Ausgleich angeboten, im gleichen Umfang beispielsweise ihr Studium oder Vikariat abzuschließen, während sie bereits angestellt sind.
Eine solche Gebärdensprachausbildung ist notwendig, um Gehörlosen das Evangelium in ihrer Sprache zu verkündigen. Doch sie ist auch teuer. Deshalb sind Stellen in der Gehörlosenseelsorge fast immer volle Stellen oder mit Stellen in Einrichtungen für Gehörlose zu vollen Stellen kombiniert und zeitlich unbefristet. So können alle Mitarbeiter in die Gehörlosenkultur eintauchen, und die Kirche ist einer der wichtigsten Akteure für diese sprachliche und kulturelle Minorität.
Mitglied einer Gehörlosengemeinde kann jeder werden, der Gebärdensprache benutzt, unabhängig vom Grad des Hörens. Mitglieder einer Gehörlosengemeinde haben immer eine Doppelmitgliedschaft innerhalb der Kirche. Sie sind zum einen gemeinsam mit ihren Nachbarn und hörenden Familienmitgliedern Mitglied ihrer hörenden Ortsgemeinde und gleichzeitig Mitglied ihrer regionalen Gehörlosengemeinde.
Theoretisch könnten sie so Mitglied in zwei Kirchenvorständen werden. Gehörlose haben auch einen eigenen Repräsentanten im Bistumsrat des Bistums Oslo, so wie die Samen in den nördlichen Bistümern. Auch in der Landessynode, der „Kirkemøte“, sind sie mit wenigstens einem Vertreter repräsentiert, so wie die Sorben in Sachsen durch den sorbischen Superintendenten.
Seit vielen Jahren organisiere ich gemeinsam mit dem Leipziger Gehörlosenpfarrer Andreas Konrath einen Jugendaustausch mit gebärdensprachlichen Jugendlichen aus Deutschland, Norwegen, Dänemark und Ungarn. Die Jugendlichen verständigen sich dabei oft auf „International Sign“, einer Art Gebärdensprachesperanto, das Gehörlose benutzen, um über die Grenzen ihrer eigenen nationalen Gebärdensprachen und -dialekte hinweg miteinander zu kommunizieren. Ich als Hörender mit einer Ausbildung und viel Erfahrung in norwegischer Gebärdensprache sehe dabei oft nur fliegende Hände.
Gehörlose haben eine eigene Sprache und Kultur auch innerhalb der Kirche, und sie brauchen eigene Gemeinden. Ihre Kultur unterscheidet sich wesentlich stärker von der lautsprachlichen, als sich reformierte Gemeinden von lutherischen unterscheiden.
Auch wenn Gehörlose in Norwegen bessere Rechte und einen besseren Zugang zu Gebärdendolmetschern haben, ist deren Verfügbarkeit und manchmal auch Bezahlung immer noch ein Problem. Mit gut ausgebildeten und dauerhaft in der Gehörlosenseelsorge angestellten Mitarbeitern der „Døvekirken“ lässt sich dieses Problem aber oft lösen.
Michael Hoffmann ist Pfarrer der norwegischen Kirche.