Interview mit Stefan Seidel

„Hass trocknet die Seele aus“

„Entfeindet Euch!“, fordert Stefan Seidel in seinem Buch und appelliert damit an die Gesellschaft. Im Gespräch mit Franciska Bohl erklärt er, wie Menschen friedlicher zusammenleben können.
Von Franciska Bohl

Demonstrierende mit Regenbogenflagge auf der PEACE (Frieden) steht.
unsplash/Alice Donovan Rouse
Die Sehnsucht nach Frieden ist bei den Menschen groß.
Stefan Seidel
Pressebild/Steffen Giersch
Stefan Seidel appelliert in seinem Buch: Entfeindet Euch!

Herr Seidel, was hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?

Stefan Seidel: Es war die Sorge, dass wir im Zuge der Zeitenwende zu sehr und zu einseitig auf die militärische Logik setzen und uns damit abschneiden von anderen Wegen. Ich finde es gefährlich, wenn nun so umfassend und flächendeckend auf das Militärische als vermeintliches Heilmittel gesetzt wird und der Staat und die Gesellschaft auf Krieg getrimmt werden. Das ist in meinen Augen ein Rückfall in den Militarismus, dessen fataler Heilsglaube an die Waffengewalt und Stärke der eigenen Seite schon so oft in furchtbaren Kriegen widerlegt wurde. Deshalb ist es aus meiner Sicht so wichtig, sich nicht blenden zu lassen von den Versprechungen all der Waffensysteme und Waffengänge. Denn das Heil kommt nicht durch die nächste größere Wunderwaffe, sondern am Ende durch Verständigung, Vermittlung, Dialog, Kompromiss und Willen zur Koexistenz.

Wie kann das konkret funktionieren?

Stefan Seidel: Dafür muss die Gewaltspirale unterbrochen werden und Signale der Entfeindung gesendet werden. Sonst steuern wir in eine Situation, die nur Verlierer kennt. Wenn man nicht einwilligen will in das brutale Gesetz des Krieges und Gegen-Krieges, das derzeit die Opferzahlen so in die Höhe schraubt, braucht es Auswege. Ich denke, wenn der Krieg in den Köpfen beginnt, beginnt auch der Frieden in den Köpfen. Und da wäre ein erster Schritt, sich nicht immer tiefer in den Tunnelblick der Verfeindung und Gewaltlogik hineintreiben zu lassen, sondern sich zu öffnen für den anderen.

Differenzierte Positionen haben es heutzutage schwer, Gehör zu finden, werden oft sogar diffamiert. Warum leben wir inzwischen in solch einer Schwarz-Weiß-Welt?

Stefan Seidel: Ich denke, das ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Viele Menschen sind durch verschiedene Krisen und Konflikte unter starken Druck geraten. Man sieht die eigene Existenz bedroht. Die globalisierte Wirtschaft spaltet die Welt in wenige Gewinner und viele Verlierer. Und oft fühlt man sich größeren Kräften machtlos ausgeliefert. Man versteht die Welt nur noch schwer, vieles ist so unübersichtlich, komplex, verstrickt, dass man meint, nichts ausrichten zu können.

Welche Rolle spielt dabei die Angst?

Stefan Seidel: Natürlich erzeugen die kriegerischen Konflikte und grassierender Terror eine große Verunsicherung. Um das zu handhaben, sind Feindbilder auf den ersten Blick hilfreich. Sie schaffen Klarheit. Man weiß, wo man steht und wo der andere steht. Und man weiß, was man machen kann: gegen den anderen kämpfen. So kommt man in ein Handeln, das die Ohnmacht scheinbar vertreibt.

Eine weiße Taube fliegt vor einem Hochhaus.
unsplash/Sunguk Kim
Die weiße Taube gilt als Symbol für den Frieden

Inwiefern trägt dafür auch die Politik die Verantwortung?

Stefan Seidel: Ein Problem sind Populisten, die meisterhaft die Aufspaltung und Verfeindung in Gang setzen, ohne echte Lösungen anzubieten. Doch auch Politiker im Kriegsmodus bedienen die Spaltung, wenn sie die Welt so klar in Freunde und Feinde, „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“ aufteilen. Das erhöht kurzfristig den Kampfgeist, aber löst langfristig nichts wirklich. Alles, was spaltet, bietet keine langfristigen Lösungen. Und es hat einen Preis, der am Ende sichtbar wird. Verfeindung wirkt auf die eigene Seite zurück, der Kampf der Zerstörung des anderen kann zur eigenen Zerstörung führen.

„Klimaleugner“, „Schlafschafe“, „Schwurbler“: Der Umgang in unserer Gesellschaft ist geprägt durch viele diffamierende Begriffe. Welche Umstände haben dazu geführt, dass wir den anderen oft nicht mehr als Mensch, sondern nur noch als Feindbild wahrnehmen?

Stefan Seidel: Feindbilder reduzieren eine komplexe Wirklichkeit auf ein handhabbares Maß. Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit kann zugunsten einer einfachen Erklärung und eines klar benennbaren Feindes aufgelöst werden. Das hat etwas Entlastendes. Und dennoch verhindert diese reflexhafte Abwehr eine echte Auseinandersetzung, die immer ein Weg zu einer echten Lösung wäre. Man meint, alles Nötige gesagt zu haben, wenn man eine abweichende Position zur indiskutablen Äußerung des Feindes erklärt. Oft vertieft das dann aber die Gräben und die Nicht-Kommunikation. Man hat es dann zwar eine Weile gemütlich in der aufgeräumten, sauberen und klaren eigenen Blase. Aber man verliert den Bezug zur ganzen Wirklichkeit und zu einer gemeinsamen Bewältigung der Probleme.

Stefan Seidel, geboren 1978, studierte Theologie in Leipzig, Jerusalem und Heidelberg sowie Psychologie in Berlin. Er ist leitender Redakteur bei der evangelischen Wochenzeitung „Der Sonntag“ in Leipzig.

Und wie kommen wir hier wieder heraus?

Stefan Seidel: Ein erster Schritt heraus aus diesen Schützengräben des Gegeneinanders wäre es, sich in Entfeindung zu üben. Das heißt, den anderen nicht vollständig mit seiner Position gleichzusetzen und abzulehnen, sondern in aller Kritik an seiner Position nie Zweifel an der Akzeptanz des anderen Menschen aufkommen zu lassen. So schaffen wir erst einmal ein gesichertes Terrain, auf dem niemand Angst vor einer Totalablehnung zu haben braucht. Und dann sollte man schauen, welche Sachprobleme hinter den Reizworten und Triggerthemen liegen, die gemeinschaftlich und kompromissbereit lösen könnte.

Aufrufe zum Frieden gibt es von höchster Stelle kaum noch. Stattdessen hat man den Eindruck, es wird eine Gewöhnung an Waffen und einen andauernden Kriegszustand forciert. Was ist passiert, dass „kriegstüchtig“ zu sein plötzlich als erstrebenswertes Ziel gilt?

Stefan Seidel: Wir sind täglich mit sehr schwer zu verarbeitenden Bildern aus Kriegsgebieten konfrontiert. Wenn dann Politiker mit robuster Rhetorik die Kriegstüchtigkeit als einzige Antwort und als die Möglichkeit, in Sicherheit zu leben, ausgeben, sind viele Menschen dieser Deutung machtlos ausgeliefert. Auch hier scheint dieser straffe Militarismus samt klarer Aufspaltung der Welt in Freund und Feind eine vordergründige Beruhigung und Entlastung darzustellen. Man scheint nicht mehr ganz so hilflos dem Weltgeschehen ausgeliefert zu sein und nimmt das Heft des Handelns in die Hand. Doch das ist trügerisch. Letztlich erzeugt Gewalt immer auch Gegengewalt und Gegengewalt neue Gewalt.

Zwei Männer schütteln sich die Hand
unsplash/Chris Liverani
Einander die Hände reichen, trotz unterschiedlicher Positionen und Meinungen.

In der Politik ist immer wieder von „Zeitenwende“ die Rede, der Begriff wird regelrecht propagiert. Wie können wir den Begriff positiv anstatt mit Angst besetzen?

Stefan Seidel: In Erinnerung an denjenigen, der die eigentliche Zeitenwende der Menschheitsgeschichte herbeigeführt hat: Jesus von Nazareth. Er brachte die entscheidenden Impulse, um aus der ewigen Blutmühle der Kriege herauszukommen, wenn er sagte: Misstraut der Gewalt, enthaltet euch von ihr, liebt den Feind und sucht die Verständigung. Und lasst euch um Gottes willen vom Bösen nicht auf dessen Boden ziehen und der Illusion erliegen, das Böse könne mit bösen Mitteln überwunden werden.“ Lässt man sich vom Bösen einmal die Spielregeln aufnötigen, versinkt man im toxischen Feld der Gewalt. Stattdessen sollte danach getrachtet werden, das Böse durch Liebe zu überwinden und der Macht der Gewaltlosigkeit zu trauen.

Stefan Seidels Buch Entfeindet Euch! Auswege aus Spaltung und Gewalt ist im Claudius Verlag München erschienen (125 Seiten,
20 Euro). Zu erhalten ist es beim Gemeindeblatt-Bestelltelefon unter 0711-60100-28 oder per E-Mail unter bestellung(at)evanggemeindeblatt.de.

Sie erwähnen in Ihrem Buch die Jüdin Etty Hillesum (1914 – 1943), die sich in Tagebüchern aus gegebenem Anlass dem Thema Feindesliebe gewidmet hatte. Sie meint: „Ich glaube nicht daran, dass wir an einer äußeren Welt etwas verbessern können, solange wir uns nicht selbst im Inneren gebessert haben.“ Kann das ein Ansatz sein, eine friedliche Welt zu erschaffen?

Stefan Seidel: Das ist ein eindrückliches Beispiel für die Kraft der Entfeindungsliebe, die im Inneren beginnt. Es ist so, wie die französische Philosophin Cynthia Fleury schreibt: „Der Hass auf die anderen trocknet die Seele aus und macht jeden Bereich zu einer Wüste.“ Hass ist selbstzerstörerisch. Die Gegenkraft ist die Liebe, die einem oft zunächst einen ungeheuren Sprung abverlangt, aber dafür in eine große Offenheit und Weite führt. Hier eröffnen sich Kräfte der Überwindung – Kräfte, die stärker sind als die Mächte der Gewalt und des Todes.

Für Hannah Arendt wurzelt das banale Böse vor allem im Verlust der Empathie. Wie können wir es schaffen, Mitgefühl und Liebe als Gefühle weiterhin zu pflegen, damit diese Welt eine menschliche bleibt?

Stefan Seidel: Indem man, wo immer es geht, die eigenen Gefühlspanzerungen überwindet und sich nicht von einem umfassenden Mitgefühl abschneiden lässt. Das ist die Versuchung jeder Ideologie und Kriegslogik: dass das Mitgefühl nur der eigenen Seite gewährt wird und zum Instrument der Erhöhung der eigenen Kriegsfähigkeit gemacht wird. Es würde helfen, wenn man sich öffnet für den Schmerz und die Not und die Angst der anderen. Dass man sich nicht einrichtet in der eigenen Ideologie, sondern das Leid aller Seiten wahrnimmt. Wir müssen diese Unfähigkeit zu trauern überwinden und wieder Tränen haben für alle Leidenden und Opfer von Gewalt.