Würde Kant heute an seinem unerschütterlichen Fortschrittsglauben festhalten?
Marcus Willaschek: Kant hat nicht an die Unausweichlichkeit des Fortschritts geglaubt, sondern nur daran, dass Fortschritt möglich ist – weil es an uns liegt, weil wir es in der Hand haben. Kant sagt, dass es auf jeden von uns ankommt und dass wir uns nicht zurücklehnen dürfen. Das ist für ihn ein moralisches Gebot. Wir können uns nicht damit herausreden, dass es unangenehm oder anstrengend ist.
Der kategorische Imperativ ...
Marcus Willaschek: Ja, der Mensch soll nach Regeln handeln, die für alle gelten können. „Ich halte mich raus. Sollen doch die anderen mal machen“ – da sieht man sofort: Das kann keine allgemeine Regel sein.
Folgt daraus eine moralisch-ethische Pflicht zum Engagement gegen den Klimawandel? Viele sagen: Bei dem globalen Problem kommt es auf mich und mein Verhalten doch gar nicht an.
Marcus Willaschek: Es geht laut Kant nicht darum, ob mein Verzicht auf einen Urlaubsflug das Klima rettet, sondern ob es vernünftig wäre, wenn alle dies täten. Dann sollte auch ich es tun. Insofern kann seine Philosophie uns in einer Welt, in der wir Verantwortung für künftige Generationen übernehmen müssen, Orientierung geben. Der kategorische Imperativ fordert auch, dass wir die Würde der anderen Menschen schützen und sie niemals nur als Mittel, sondern auch als Zweck behandeln sollen. Doch wir lassen es in vielfacher Weise zu, dass Menschen zu bloßen Mitteln gemacht werden. Offensichtliche Beispiele sind Formen ausbeuterischer Wirtschaft, von denen wir profitieren: billige T-Shirts und Elektrogeräte etwa, für die in anderen Teilen der Welt Menschen die Rohstoffe unter erbärmlichsten Bedingungen gewinnen und verarbeiten. Es ist für den Einzelnen nicht leicht, sich dem zu entziehen. Aber der erste Schritt ist anzuerkennen: Das ist ungerecht. Und das folgt ebenfalls aus dem kategorischen Imperativ.
Was würde der Welt fehlen, wenn Kant nicht gelebt hätte?
Marcus Willaschek: Es würde der Begriff der Menschenwürde in unserem Grundgesetz fehlen, das Konzept des mündigen Bürgers, das für uns in der Bundesrepublik maßgebliches Leitbild ist. Vielleicht würden auch die Vereinten Nationen nicht in dieser Form existieren. Und das Erstaunliche dabei ist: Kant hat nichts anderes getan, als Bücher und Artikel zu schreiben. Er war kein Politiker, er hat nichts erfunden, hat keine lebensrettende Medizin entwickelt. Trotzdem prägt seine auf das reine Denken bezogene Existenz unsere Welt bis heute.