Nautisches aus Nürtingen

Shanty-Chor in Nürtingen singt den Norden in den Süden

In Nürtingen begeistert der Shanty-Chor, die Neckarknurrhähne, seit 35 Jahren. Von Andreas Steidel

Shanty-Chor steht vor Fluss und Kirche
privat
Die Knurrhähne vom Neckar – vor der Stadtkirche Nürtingen

Einen Viermaster hat man auf dem Neckar in Nürtingen eigentlich noch nie gesehen. Der Fluss ist hier ja auch nicht schiffbar. Höchstens ein paar Paddel- oder Ruderboote verkehren dort zuweilen. Das stört die Neckarknurrhähne kein bisschen. Aus voller Kehle singen sie am Fuße des Albtraufs: „Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn.“

Sie tun das sogar auf Plattdeutsch. Vor allem der Vorsänger, Adi Oldendorf, hat den Dialekt der Nordlichter so gut drauf, dass man meinen könnte, er kommt von dort. Tut er ja auch, Adi ist Ostfriese, ein Zugereister wie so mancher im Nürtinger Shanty-Chor. Er ist auch schon auf einem Frachtschiff mitgefahren.

Gründung des Shanty-Chors

Alles begann vor 35 Jahren bei einem Stammtisch in einer Weinstube am Neckar. Da hatte einer ein Akkordeon dabei und ein anderer eine Gitarre. Die Seemannslieder kamen am besten an, nicht nur bei den Stammtischbrüdern selbst, sondern auch bei den zufälligen Zuhörern. Der kleine Chor wurde zur Attraktion, trat bei immer mehr Anlässen auf. Schließlich gründete man 1988 einen Verein mit dem augenzwinkernden Titel: Neckarknurrhähne.

Der Knurrhahn ist der einzige Fisch, der singende Laute von sich gibt. In Nürtingen war es gleich ein ganzer Schwarm, der mit einstimmte: Zu Spitzenzeiten zählte der Shanty-Chor rund 40 Sänger. Eine fröhliche Truppe, die nun mit aller Akribie begann, ein auftrittsfähiges Repertoire aufzubauen.

Chor singt bekannte Shanty-Lieder 

Der „Hamborger Veermaster“ ist natürlich ein Klassiker. Vielleicht auch, weil er wie kaum ein anderes Lied rüberbringt, was ein Shanty eigentlich ist: ein Arbeiterlied, bei dem ein Vorsänger, der Shanty-Man, den Ton angibt. Adi also. Er hält den Takt, derweil die anderen Segel setzen, Deck schrubben, Kombüse reinigen. In Nürtingen passiert das eher selten, aber das tut der Inbrunst beim Vortrag der Shanty-Sänger keinen Abbruch.

170 Titel haben die Knurrhähne heute im Repertoire. Jeden Montag treffen sie sich im Haus der Heimat und feilen an ihren Stücken: Blaue Jungs, Seemann, Heut geht’s an Bord. Sogar eine Nürtingen-Hymne haben sie geschrieben und die Nordseewellen gegen die Neckarwellen ausgetauscht. Fernweh mit etwas Heimweh kombiniert, das kommt gut an.

Musikalischer Leiter ist seit vielen Jahren Hermann Kovacic, der ursprünglich aus Österreich stammt. Shantys kannte er anfangs gar nicht, doch die waren auch Freddy Quinn fremd, als er 1931 in der Nähe von Wien geboren wurde. Der Junge aus St. Pauli, er hätte auch gut nach Nürtingen gepasst. Wenn Kovacic mit Prinz-Heinrich-Mütze und Akkordeon das maritime Liedgut anstimmt, könnte man ebenfalls meinen, er hätte sein Leben lang nichts anderes gemacht.

Die nächsten Auftritte der Neckarknurrhähne finden Sie hier.

Nachwuchs fehlt im Nürtinger Shanty-Chor

Viele der Nürtinger Shanty-Sänger sind schon seit Jahrzehnten dabei. Bernd Habermann zum Beispiel, ein Braunschweiger, den es in den 90er-Jahren an den Neckar verschlug. Seit 22 Jahren ist er der Vorsitzende der Knurrhähne und mit 79 Jahren immer noch einer der aktivsten Sänger. Es macht ihm etwas Sorgen, dass der Nachwuchs fehlt. Henrik Peter, ursprüngliche Heimat Leipzig, ist mit 50 Jahren derzeit der jüngste Sänger.

Es ist eine kunterbunte Truppe, die da so etwa 20- bis 25-mal jährlich auf die Bühne geht. Ein paar Schwaben sind auch darunter, „aber nur etwa 20 Prozent“, schätzt Vorsitzender Habermann. Rund 80 Prozent der Mitglieder haben einen binnendeutschen Migrationshintergrund. Vom Norden in den Süden. Von der Donau an den Neckar. Vom Elbsandsteingebirge ins Vorland der Alb.

Shanty Chor mit Moderator Andy Borg im Fernsehstudio
privat
Auftritt der Neckarknurrhähne bei Andy Borg im Fernsehen.

Gefragter Shanty-Chor

Sie sind gefragt, die Shanty-Sänger aus Nürtingen. „Bei uns erlebt man so viel wie nirgendwo anders“, sagen sie einhellig. Und zählen eine lange Liste von Auftrittsorten auf, die fast nicht mehr enden will: der Kurpark in Bad Urach, der Kirchentag in Stuttgart, das Shanty-Festival in Mecklenburg-Vorpommern, eine alte Seemannskirche an der Ostsee und immer mal wieder ein TV-Auftritt. So waren sie zu Gast im ZDF-Fernsehgarten und erst letztes Jahr beim Schlagerspaß von Andy Borg. Darauf sind sie mächtig stolz, in tadellosem Marineoutfit sangen sie dort das Sehnsuchtslied vom Seemann, der das träumen nicht lässt.

Seemannslieder wecken Emotionen

Besonders alte Menschen bekommen feuchte Augen, wenn sie die Seemannsweisen der Shanty-Sänger hören. Entsprechend oft treten sie auch in Seniorenheimen auf und schenken den Menschen damit ein paar fröhliche Stunden. Zuweilen stimmen sie dann auch Lieder an, die nicht direkt dem Shanty-Repertoire entstammen: ein Friedenslied zum Beispiel, das auf die Melodie von Greensleeves gesungen wird: Peace, Friede, Shalom, Salam – man kann es in diesen Zeiten besonders gut brauchen.

Es ist noch immer ein beeindruckendes Erlebnis, wenn man den Klangkörper der Nürtinger Shanty-Sänger live erlebt. Da sieht man den Veermaster förmlich vorbeisegeln, auch wenn er in Wahrheit über 500 Kilometer weit weg ist. Das dachte sich wohl auch der Sohn eines Kapitäns, der sich im Schwarzwald zur Ruhe gesetzt hatte. Als sein Vater starb, bestellte er für die Trauerfeier nicht den Kirchenchor, sondern die Neckarknurrhähne aus Nürtingen.