Einen Viermaster hat man auf dem Neckar in Nürtingen eigentlich noch nie gesehen. Der Fluss ist hier ja auch nicht schiffbar. Höchstens ein paar Paddel- oder Ruderboote verkehren dort zuweilen. Das stört die Neckarknurrhähne kein bisschen. Aus voller Kehle singen sie am Fuße des Albtraufs: „Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn.“
Sie tun das sogar auf Plattdeutsch. Vor allem der Vorsänger, Adi Oldendorf, hat den Dialekt der Nordlichter so gut drauf, dass man meinen könnte, er kommt von dort. Tut er ja auch, Adi ist Ostfriese, ein Zugereister wie so mancher im Nürtinger Shanty-Chor. Er ist auch schon auf einem Frachtschiff mitgefahren.
Alles begann vor 35 Jahren bei einem Stammtisch in einer Weinstube am Neckar. Da hatte einer ein Akkordeon dabei und ein anderer eine Gitarre. Die Seemannslieder kamen am besten an, nicht nur bei den Stammtischbrüdern selbst, sondern auch bei den zufälligen Zuhörern. Der kleine Chor wurde zur Attraktion, trat bei immer mehr Anlässen auf. Schließlich gründete man 1988 einen Verein mit dem augenzwinkernden Titel: Neckarknurrhähne.
Der Knurrhahn ist der einzige Fisch, der singende Laute von sich gibt. In Nürtingen war es gleich ein ganzer Schwarm, der mit einstimmte: Zu Spitzenzeiten zählte der Shanty-Chor rund 40 Sänger. Eine fröhliche Truppe, die nun mit aller Akribie begann, ein auftrittsfähiges Repertoire aufzubauen.
Der „Hamborger Veermaster“ ist natürlich ein Klassiker. Vielleicht auch, weil er wie kaum ein anderes Lied rüberbringt, was ein Shanty eigentlich ist: ein Arbeiterlied, bei dem ein Vorsänger, der Shanty-Man, den Ton angibt. Adi also. Er hält den Takt, derweil die anderen Segel setzen, Deck schrubben, Kombüse reinigen. In Nürtingen passiert das eher selten, aber das tut der Inbrunst beim Vortrag der Shanty-Sänger keinen Abbruch.
170 Titel haben die Knurrhähne heute im Repertoire. Jeden Montag treffen sie sich im Haus der Heimat und feilen an ihren Stücken: Blaue Jungs, Seemann, Heut geht’s an Bord. Sogar eine Nürtingen-Hymne haben sie geschrieben und die Nordseewellen gegen die Neckarwellen ausgetauscht. Fernweh mit etwas Heimweh kombiniert, das kommt gut an.
Musikalischer Leiter ist seit vielen Jahren Hermann Kovacic, der ursprünglich aus Österreich stammt. Shantys kannte er anfangs gar nicht, doch die waren auch Freddy Quinn fremd, als er 1931 in der Nähe von Wien geboren wurde. Der Junge aus St. Pauli, er hätte auch gut nach Nürtingen gepasst. Wenn Kovacic mit Prinz-Heinrich-Mütze und Akkordeon das maritime Liedgut anstimmt, könnte man ebenfalls meinen, er hätte sein Leben lang nichts anderes gemacht.