Wahlkampf ist eine künstliche Situation
Frank Brettschneider nennt das „Agenda Setting“, zu Deutsch: die Festlegung der Tagesordnung. Brettschneider ist Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität Hohenheim und Experte für Wahlforschung. „Ein Wahlkampf ist kein Kampf um die besseren Argumente“, sagt er. „Am Ende geht es darum: Welche Themen haben Menschen unmittelbar vor ihrer Wahlentscheidung im Kopf?“ Dabei haben soziale Themen gleich mehrere Nachteile. Einschneidende Vorfälle, wie beispielsweise der Messerangriff in Aschaffenburg, sorgen dafür, dass ein Thema wie Migration innerhalb kurzer Zeit viel Aufmerksamkeit bekommt.
Soziale Krisen im Wahlkampf
Anhaltende soziale Krisen, wie etwa die Wohnungsnot oder der Pflegenotstand, sind nicht an konkrete Ereignisse gebunden. Daher haben sie auf die Nachrichtenlage einen geringeren Einfluss. Brettschneider erklärt: „Was die Aufmerksamkeitsschwelle nicht überschreitet, findet auch in der öffentlichen Wahrnehmung weniger statt.“ Außerdem trete bei Menschen, die sich nicht persönlich von sozialen Fragen betroffen fühlen, ein Gewöhnungseffekt ein:
Wenn man eine Wohnung sucht und keine bezahlbare findet, dann ist das für einen selbst dauerhaft wichtig – aber für die Bevölkerung insgesamt nicht
sagt Frank Brettschneider
Nicht als wahlentscheidend wahrgenommen
Schlimmer werde das, weil die Betroffenen selbst kaum eine politische Lobby hätten. Sie seien oft nicht ausreichend organisiert und würden nicht als wahlentscheidende Gruppe wahrgenommen. „Wenn sie dann auch noch nicht wählen gehen, fehlt den Parteien die Einsicht, dass man diese Probleme lösen muss.“
Mehr Raum für soziale Themen
Die Anwälte dieser Anliegen, die Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und Kirchen, schafften es mit ihrem Engagement selbst nicht in die Medien. Soziale Fragen würden es daher nur selten über ihre Interessensgruppen hinaus schaffen.
Für Knapp ist diese öffentliche Wahrnehmung ein Trugschluss. Soziale Krisen seien keine Nischenthemen. Jeder Mensch brauche Bildung und Pflege, niemand sei sicher davor, einmal von Sozial- oder Gesundheitssystemen abhängig zu sein.
Suchtfragen, Lebenskrisen, psychische Belastungen, Armut, all das kann uns treffen.
sagt Kornelius Knapp
Im Wahlkampf der Parteien, aber auch in der Berichterstattung der Medien, müsse diesen Themen mehr Raum gegeben werden. Nur weil ein Thema nicht im breiten Diskurs ankommt, ist es der Bevölkerung aber noch lange nicht egal.
Migrationsdebatte vs. soziales Gefälle
Zwischen dem, was gesellschaftlich wichtig ist, und dem, was wahlkampfrelevant ist, sieht Knapp daher eine große Diskrepanz. Reden die Politiker im Wahlkampf etwa an den Wählern vorbei? Im ARD-Deutschlandtrend aus dem Januar 2025 stuften die Befragten das soziale Gefälle zwischen Arm und Reich als das größte Problem für das Zusammenleben in Deutschland ein. Dieselben Befragungen zeigen aber auch: Wer den lautesten Migrationswahlkampf führt, liegt in den Umfragen vorne. Woher kommt dieser Widerspruch?
Für Frank Brettschneider hat das zwei Gründe: Zum einen erkennen viele Menschen zwar soziale Ungleichheit als Problem an, doch was genau als Armut oder Reichtum gilt, werde unterschiedlich wahrgenommen. Sobald eine Debatte konkreter wird, etwa bei der Frage, wer noch als Geringverdiener oder Kleinanleger gelte, gehen die Meinungen auseinander.
Zum anderen erfordere die Bekämpfung sozialer Ungleichheit drastische politische Maßnahmen wie Umverteilung oder Steuererhöhungen. „Das sind unglaublich viele Stellschrauben, die auch alle nochmal ineinandergreifen. Da gibt es nichts, das folgenlos in anderen Bereichen bliebe“, erklärt Brettschneider. Je detaillierter darüber diskutiert wird, desto geringer wird die Zustimmung. Da sich mit solchen Themen kaum Wahlen gewinnen ließen, würden sie oft ganz vermieden.