Bundestagswahl 2025

Warum soziale Themen im Wahlkampf zu kurz kommen

Armut, Sucht oder psychische Belastungen können alle Menschen treffen. Im Wahlkampf werden diese Themen von der Migrationsdebatte übertönt. Die Diakonie will das ändern. Von Claudio Murmann

viele Hände, die sich durch rote Farbe angemalt zu einem Herz formen
Unsplash/Tim Marshall
Kornelius Knapp
Diakonie Württemberg/­Manfred Neumann
Kornelius Knapp ist sozialpolitischer Vorstand der Diakonie Württemberg

Sorge vor weiteren Kürzungen im Sozialen

Ein Wahlkampf sei das nicht, eher ein Überbietungswettbewerb: So beurteilt Kornelius Knapp das aktuelle Werben um Wählerstimmen. Knapp ist sozialpolitischer Vorstand der Diakonie Württemberg. Es scheint nur um eins zu gehen: „Wer hat die krassesten Forderungen hinsichtlich der Abschottung?“ Migration werde als „Mutter aller Probleme“ dargestellt. Die sozialen Fragen hingegen blieben weitgehend unbeantwortet, klagt Knapp und nennt Beispiele: Schon lange warte die Diakonie auf umfassende Pflegereformen, auf eine Grundsicherung gegen Armut und auf mehr Mittel für die Freiwilligendienste.

Stattdessen wird beim Freiwilligendienst gekürzt. Über die geplante Kindergrundsicherung konnte sich die scheidende Regierung vor dem Ampel-Aus nicht einig werden. Und auch die Entwürfe für neue Pflegegesetze haben es nicht in die Umsetzung geschafft. Der bisherige Wahlkampf verspricht keine Besserung. „Die Zeichen stehen gerade eher auf Kürzung des Sozialen“, warnt Knapp. In der aufgeheizten Debatte falle es der Diakonie schwer, mit den eigenen Themen durchzudringen.

Frank Brettschneider
Universität ­Hohenheim/Claudia Thoms
Frank Brettschneider ist Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität Hohenheim und Experte für Wahlforschung.

Wahlkampf ist eine künstliche Situation

Frank Brettschneider nennt das „Agenda Setting“, zu Deutsch: die Festlegung der Tagesordnung. Brettschneider ist Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität Hohenheim und Experte für Wahlforschung. „Ein Wahlkampf ist kein Kampf um die besseren Argumente“, sagt er. „Am Ende geht es darum: Welche Themen haben Menschen unmittelbar vor ihrer Wahlentscheidung im Kopf?“ Dabei haben soziale Themen gleich mehrere Nachteile. Einschneidende Vorfälle, wie beispielsweise der Messerangriff in Aschaffenburg, sorgen dafür, dass ein Thema wie Migration innerhalb kurzer Zeit viel Aufmerksamkeit bekommt.

Soziale Krisen im Wahlkampf

Anhaltende soziale Krisen, wie etwa die Wohnungsnot oder der Pflegenotstand, sind nicht an konkrete Ereignisse gebunden. Daher haben sie auf die Nachrichtenlage einen geringeren Einfluss. Brettschneider erklärt: „Was die Aufmerksamkeitsschwelle nicht überschreitet, findet auch in der öffentlichen Wahrnehmung weniger statt.“ Außerdem trete bei Menschen, die sich nicht persönlich von sozialen Fragen betroffen fühlen, ein Gewöhnungseffekt ein:

Wenn man eine Wohnung sucht und keine bezahlbare findet, dann ist das für einen selbst dauerhaft wichtig – aber für die Bevölkerung insgesamt nicht

sagt Frank Brettschneider

Nicht als wahlentscheidend wahrgenommen

Schlimmer werde das, weil die Betroffenen selbst kaum eine politische Lobby hätten. Sie seien oft nicht ausreichend organisiert und würden nicht als wahlentscheidende Gruppe wahrgenommen. „Wenn sie dann auch noch nicht wählen gehen, fehlt den Parteien die Einsicht, dass man diese Probleme lösen muss.“

Mehr Raum für soziale Themen

Die Anwälte dieser Anliegen, die Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und Kirchen, schafften es mit ihrem Engagement selbst nicht in die Medien. Soziale Fragen würden es daher nur selten über ihre Interessensgruppen hinaus schaffen.

Für Knapp ist diese öffentliche Wahrnehmung ein Trugschluss. Soziale Krisen seien keine Nischenthemen. Jeder Mensch brauche Bildung und Pflege, niemand sei sicher davor, einmal von Sozial- oder Gesundheitssystemen abhängig zu sein.

Suchtfragen, Lebenskrisen, psychische Belastungen, Armut, all das kann uns treffen.

sagt Kornelius Knapp

Im Wahlkampf der Parteien, aber auch in der Berichterstattung der Medien, müsse diesen Themen mehr Raum gegeben werden. Nur weil ein Thema nicht im breiten Diskurs ankommt, ist es der Bevölkerung aber noch lange nicht egal.

Migrationsdebatte vs. soziales Gefälle

Zwischen dem, was gesellschaftlich wichtig ist, und dem, was wahlkampfrelevant ist, sieht Knapp daher eine große Diskrepanz. Reden die Politiker im Wahlkampf etwa an den Wählern vorbei? Im ARD-Deutschlandtrend aus dem Januar 2025 stuften die Befragten das soziale Gefälle zwischen Arm und Reich als das größte Problem für das Zusammenleben in Deutschland ein. Dieselben Befragungen zeigen aber auch: Wer den lautesten Migrationswahlkampf führt, liegt in den Umfragen vorne. Woher kommt dieser Widerspruch?

Für Frank Brettschneider hat das zwei Gründe: Zum einen erkennen viele Menschen zwar soziale Ungleichheit als Problem an, doch was genau als Armut oder Reichtum gilt, werde unterschiedlich wahrgenommen. Sobald eine Debatte konkreter wird, etwa bei der Frage, wer noch als Geringverdiener oder Kleinanleger gelte, gehen die Meinungen auseinander.

Zum anderen erfordere die Bekämpfung sozialer Ungleichheit drastische politische Maßnahmen wie Umverteilung oder Steuererhöhungen. „Das sind unglaublich viele Stellschrauben, die auch alle nochmal ineinandergreifen. Da gibt es nichts, das folgenlos in anderen Bereichen bliebe“, erklärt Brettschneider. Je detaillierter darüber diskutiert wird, desto geringer wird die Zustimmung. Da sich mit solchen Themen kaum Wahlen gewinnen ließen, würden sie oft ganz vermieden.

Eine Person hat einen Banner mit der Aufschrift "your vote is your voice" (Dein wählen ist deine Stimme)
Unsplash+/Andrej Lišakov
„Dein Wählen ist deine Stimme”

Württemberg: Diakonie-Aktion #IchGeheWählenWeil

Genau dagegen wehren sich die Wohlfahrtsverbände im Wahlkampf. Die Diakonie Württemberg gibt mit der Aktion „#IchGeheWählenWeil“ Mitarbeitern, Ehrenamtlichen und Klienten der Diakonie eine Stimme, um zum Wählen nach sozialen Gesichtspunkten zu motivieren.

Noch konkreter wird die Diakonie Deutschland mit der Kampagne „#SozialWählen“: Am 23. Februar soll für einen starken Sozialstaat und gegen Spaltung gestimmt werden. Damit verbunden sind Forderungen an die Politik: Investitionen in Bildung und Jugendhilfe, eine Reform der Schuldenbremse, Umverteilung der Lasten bei Steuern und Ausgaben. In Beiträgen in den sozialen Medien wird außerdem den gängigen Vorurteilen gegenüber Migranten, Wohnungslosen und Sozialhilfeempfängern widersprochen. Dort heißt es beispielsweise: Faul seien nicht die Empfänger von Bürgergeld, faul sei es, „sich nicht mit den Gründen für ihre Lebenssituation auseinanderzusetzen.“

Persönliche Gespräche überzeugen

Aber kommen solche Argumente an? Bei Menschen, die diesen populistischen Klischees ohnehin zustimmen, stünden die Chancen schlecht, findet Frank Brettschneider. „Die werden sich dadurch nicht hinterfragt sehen.“ Trotzdem sei die Aktion wichtig. „Im Wahlkampf Einstellungen zu verändern ist unglaublich schwierig“, erklärt er. Am überzeugendsten sei daher das persönliche Gespräch mit vertrauten Menschen. „Damit man gut Gespräche führen kann, braucht man Argumente. Und diese Argumente liefert eine solche Kampagne.“

Die Aktion helfe also Menschen, die diese Vorurteile bereits ablehnen, andere zu überzeugen. Aber die Kampagne könne auch bei Menschen, die sich zu diesen Vorurteilen keine Meinung gebildet haben, Wirkung zeigen. Denn wer die Klischees oft genug hört oder liest, laufe Gefahr, sie irgendwann für wahr zu halten. Widerspruch ist also wichtig.

So sieht es auch Kornelius Knapp. „Wir müssen markieren, für was wir stehen, um die Menschen zu überzeugen, die sich auch überzeugen lassen.“ Er hofft, dass diese Standpunkte in die heiße Phase des Wahlkampfs einziehen. Er setze auf ein Bekenntnis zu demokratischen Werten, auf eine differenziertere Berichterstattung in den Medien, auf Entscheidungsträger, die nicht über jedes populistische Stöckchen springen.

Und ich hoffe auf unsere Gesellschaft, die einfach bunter und interessierter ist, als es der aktuelle Diskurs widerspiegelt.

sagt Kornelius Knapp