Bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, war jeder 100. Mensch in Stuttgart jüdisch. Synagogengemeinden fanden sich im ganzen Land, Juden und Christen wohnten selbstverständlich Tür an Tür. Der Holocaust hat jüdische Präsenz in Deutschland fast völlig zerstört. Wie viel verloren gegangen ist, lässt sich durch das neue Buch „Jüdisches Leben in Württemberg. Gestern und heute“ erahnen. Dabei schildert das Buch auch das zarte Aufblühen jüdischer Gemeinden im Südwesten nach dem Zweiten Weltkrieg.
Juden lebten früher keineswegs nur in den großen Städten. Eine einzigartige Siedlung entstand auf der Schwäbischen Alb in Buttenhausen im heutigen Landkreis Reutlingen. Dort gab es vorübergehend mehr jüdische Bürger als evangelische. Juden entwickelten das Dorf im Großen Lautertal im 19. Jahrhundert zum Shopping-Zentrum mit überregionaler Anziehungskraft. Mitten im Nirgendwo gab es Mode, Aussteuer, Lebensmittel, Zigarren.
Buttenhausen zeigt aber auch die Tragik, dass viele Juden die Bösartigkeit der Nazis unterschätzten. In dem Dorf lebten jüdische Männer, die im Ersten Weltkrieg noch für Deutschland ihr Leben riskiert hatten. Sie glaubten nicht, dass die neuen Machthaber sie bedrohen würden - und fielen schließlich in Konzentrationslagern den staatlichen Mördern zum Opfer. Heute erinnern in Buttenhausen vor allem der alte jüdische Friedhof und ein Museum an die gute alte Zeit, als Juden und Protestanten friedlich und tolerant zusammenlebten.
Streifzüge durch jüdisches Leben im Südwesten
Das Buch vereint eine Serie von Beiträgen, die das Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg zum Jubiläum „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ veröffentlicht hat. Der Charme dieser Zusammenstellung ist, dass jeder der 30 präsentierten Orte zwischen Bad Mergentheim und Ravensburg mit einem eigenen Artikel gewürdigt wird. Hintergrundtexte vertiefen das Verständnis.
Auf der Reise durch den Südwesten begegnet man allerlei Skurrilitäten. Etwa der Synagoge in Bad Buchau am Federsee, in der - wie in einer Kirche - eine Glocke zum Gebet rief. „Glockensynagogen“ gab es bis dahin weltweit nur zwei: eine in Rom, die andere in Gibraltar.
Auch hat die jüdische Gemeinschaft in Württemberg einige Menschen hervorgebracht, die die Geschichte veränderten. Dazu gehört aus dem oberschwäbischen Laupheim Kilian von Steiner, der der Wirtschaft in Württemberg, Baden und Deutschland als Bankier wesentliche Impulse gab. Aus demselben Ort stammte Carl Lemmle, der mit 17 Jahren auswanderte und in den USA Hollywood gründete. In Hengstfeld bei Schwäbisch Hall wurde 1870 der Jude Adolf Jandorf geboren, der nach einer Expedition in die USA wieder in Deutschland Fuß fasste und als Vater des Berliner „Kaufhaus des Westens“ (Kadewe) gilt.
Barbara Traub, Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg, erinnert im Vorwort daran, dass jüdische Spuren in Württemberg weit ins Mittelalter zurückreichen. Sie wünscht sich, dass auf eine lesende Beschäftigung mit dem Judentum eine Kontaktaufnahme mit den jüdischen Gemeinden folgt. Tatsächlich vermittelt das Buch das Bedürfnis, jüdischem Leben auch in Württemberg neu zu begegnen.
Mit seinen vielen Fotos und Illustrationen will das Buch nicht nur die Vergangenheit aufleben lassen. Es hält auch viele Informationen für Menschen parat, die sich einzelne Orte selbst anschauen und Spuren jüdischen Lebens entdecken wollen.