Buchtipp: „Brockesstraße Beletage“ von Anette L. Dressler

Fremdes kann vertraut werden

Wie mag es sein, zwangsweise eine fremde Person in den eigenen Wänden einquartiert zu bekommen? Eine Frage, die sich nach der Lektüre von Anette Dresslers lesenswertem und überraschendem Roman stellt. Von Waltraud Günther

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Anette L. Dressler: Brockesstraße Bel Etage. Stroux Edition 2023, 328 Seiten, 24 Euro.

In „Brockesstraße Bel Etage“ erhält die alt-eingesessene Lübecker Kriegerwitwe Alma Curtz im Sommer 1947 eine Zwangseinquartierung. Das Wohnungsamt weist ihr Frieda Markuweit, eine heimatvertriebene Kriegerwitwe, zu. Unterschiedlicher könnten die beiden Frauen kaum sein. Da träumt die lebenslustige Alma, die kaum Lesen oder Schreiben kann, davon, den Kurzwarenladen wieder zu eröffnen. Während die feinsinnige und gebildete Frieda mit der Trauer um ihren gefallenen Ehemann, dem Verlust ihrer Heimat und dem Kulturschock zu kämpfen hat.

Die Frauen trennen Welten, und doch zwingt sie die Wohnungsnot der deutschen Nachkriegsjahre, sich die Wohnung in Lübeck zu teilen. Ein anstrengendes Unterfangen, das Dressler manchmal anrührend, dann wieder humorvoll und kurzweilig beschreibt.

Zugleich bietet ihr Roman aber auch Einblicke in den alltäglichen Überlebenskampf im Nachkriegsdeutschland. Da blüht der Schwarzmarkt, Nylonstrümpfe fungieren als Ersatzwährung – genauso wie der Hunger nach einem besseren Leben. Als Frieda akzeptiert, dass es für sie kein Zurück in ihre Heimat gibt, bemüht sie sich, ihrer „Hausfrau“ Lesen und Schreiben beizubringen. Als Frieda endlich vom Wohnungsamt eine eigene kleine Wohnung zugewiesen bekommt, fällt den beiden Frauen der Abschied schwer.