Prälatur Reutlingen

Von Bach bis Björk

TÜBINGEN – Im Oktober feiert der Posaunenchor Tübingen sein 125-jähriges Bestehen. An Bläsern herrscht dort kein Mangel und seit vielen Jahren schon spielen auch Frauen mit. Selbst die Diri­gentenstelle teilen sich dort ein Mann und eine Frau. Das ist nur eine der vielen Besonderheiten dieses Chors, der nicht nur im Advent das Stadtleben bereichert. Von Johannes Schweikle

Reutlingen
Foto: Matthias Schlecht
Die Truppe der Turmbläser der Gegenwart.
Posaunen
Matthias Schlecht
Jung und Alt spielen im Gleichklang.

An Himmelfahrt geht es darum, Schatten zu finden. Und die Noten sicher am Ständer zu befestigen, dass der Wind sie nicht wegblasen kann. An diesem Feiertag im Frühling spielen wir jedes Jahr beim Gottesdienst im Botanischen Garten. Diesmal wählten wir für den Schluss ein temperamentvolles Stück jenseits von Bach und Händel: den „Farmhouse Rock“.

Als ich anschließend mit meinem Posaunenkoffer zum Ausgang des blühenden Parks ging, sprach mich ein Vater an, der nichts von der kirchlichen Veranstaltung wusste. Er wollte seinen Kindern die exotischen Pflanzen aus aller Welt zeigen und fragte erfreut: „Was war das für ein Konzert?“ Vor 125 Jahren wurde der Posaunenchor Tübingen im Rahmen des „Evangelischen Jünglingsvereins“ gegründet. Vermutlich wirkte motivierend, dass es in Reutlingen bereits einen Posaunenchor gab – mit dieser reichen Nachbarstadt rivalisiert Tübingen seit je. Der erste Dirigent hieß Karl Neuheller. Er war der Sohn des Turmwächters und spielte Tenorhorn bei der Tübinger Stadtmusik. Die wöchentlichen Proben des neuen Posaunenchors fanden in seiner Wohnung oder in einem Gasthaus in der Neckarhalde statt.

Archivbild/Posaunenchor Tübingen
Eine Bild aus den Anfangsjahren.

Die Gründungsmitglieder waren, wie kaum anders zu erwarten, ausschließlich Männer: zwei Schreiner, ein Schlosser, ein Nota­riatspraktikant sowie der Mesner der Stiftskirche. Der Klangkörper bestand aus vier Flügelhörnern, dem Tenorhorn des Chorleiters und einer Bassposaune.

Heute werden wir von einer jungen Frau dirigiert. Kathrin Bender wechselt sich mit Martin Riehle in einer Weise ab, die auch im kirchlichen Milieu nicht oft zu finden ist: ohne Ehrenkäsigkeit und Kompetenz­gerangel. In jeder Stimme spielen Frauen – von der Trompete bis zur Tuba. Wir profitieren davon, dass regelmäßig neue Musiker zu uns stoßen, die zum Studium oder zur Ausbildung nach Tübingen kommen. Für junge Menschen ist der Posaunenchor attraktiv, weil die evangelische Bläserbewegung es geschafft hat, ihr Repertoire zu öffnen. Wir spielen nicht nur Choräle und klassische Komponisten, sondern auch moderne Genres aus der ganzen Welt der Musik, von südamerikanischem Tango über Jazz bis Filmmusik.

Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts trafen auch den Posaunenchor. Im Ersten Weltkrieg brachte man in Tübingen kein spielfähiges Ensemble mehr zusammen. Ironie der Geschichte: 1920 erweckte der Militärmusiker Alwin Kleinig die evangelische Bläsermusik zu neuem Leben. Unter den National­sozialisten wurde der Posaunenchor Zwangsmitglied in der Reichsmusikkammer. 1945 verhängte die französische Besatzungsmacht ein Auftrittsverbot. Zwei Jahre später hält die Chronik fest, dass „der kalte Winter 1946/47 und der Hunger oft sehr zu schaffen machten. Dankbar sei vermerkt, dass ab und zu bei besonderen Anlässen den Bläsern Lebensmittelspenden zukamen.“

Über den Autor

Der Theologe Johannes Schweikle schreibt als Schriftsteller und Journalist und spielt im Tübinger Posaunenchor Posaune im Bass.

Um 1960 spielten so viele mit, dass der Chor geteilt wurde. Drei Jahre später wurden die Chöre Nord und Süd allerdings wiedervereinigt. 1975 hob der Posaunenchor seine Zu­gehörigkeit zum CVJM auf und gliederte sich in die Evangelische Gesamtkirchengemeinde ein. Diese Konstruktion erweist sich bis heute als tragfähig: Im Lauf des Jahres spielen wir an wechselnden Orten in und um Tübingen, begleiten Gottesdienste in den verschiedenen Kirchen und im Freien. Jeden Sonntagmorgen steigen einige von uns auf den Turm der Stiftskirche und wecken die Stadt mit Chorälen.

Corona stellte unsere musikalische Leidenschaft auf eine harte Probe. Als wir nach einer langen Pause wieder gemeinsam üben durften, mussten wir mit viel Abstand in der Stephanuskirche sitzen. Der Sopran war so weit weg, dass ich mich im Bass kaum noch am Klang der Trompeten orientieren konnte.

Im Herbst bereiten wir uns intensiv auf den Höhepunkt des Jahres vor. Am Vorabend des Ersten Advents spielen wir die Motette in der Stiftskirche. Mehr als 30 Blechbläser sitzen im Halbkreis vor dem gotischen Lettner, bei Johann Sebastian Bachs unsterblicher Choralvariation „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ schwebte der tiefe Klang von drei Tuben zwischen den hohen Säulen. Mittelalter und Moderne verbanden sich in einem virtuosen Arrangement, das Christof Schmidt mit uns einstudiert hat: Die Solotrompeten begannen auf der Empore geheimnisvoll mit einer Melodie der Hildegard von Bingen, dann spannte der Chor den Bogen der Erwartung weiter mit „Dancer in the Dark“ der isländischen Musikerin Björk.

Für viele Tübinger ist es ein Ritual: Mit unserer Motette beginnt der Advent. An diesem Samstagabend ist die Stiftskirche fast so voll wie an Weihnachten.

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