Wer einmal die Anlage des ehemaligen KZs in Auschwitz-Birkenau besucht und mit eigenen Augen den Ort gesehen hat, gegenüber dem selbst die Hölle wie der Himmel wirkt, weiß, wozu der Mensch fähig ist. Es ist etwas anderes, darüber zu lesen, als selbst zu spüren und zu sehen, wie dunkel ein Ort sein kann. Davor wusste ich im Kopf, dass die Bosheit des Menschen groß sein kann. Seitdem ich an der Gedenkstätte war, blieb kein Zweifel mehr, wie sehr unser Herz in Dunkelheit geraten kann und wie sehr wir die Erinnerung an diese abgrundtiefe Dunkelheit brauchen, um nie wieder unser Herz in solch tiefe Sphären der Verführbarkeit, des blinden Gehorsams, der Taubheit, des Hasses, der Verblendung und der Gottlosigkeit zu stürzen.
Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus hochzuhalten, heißt auch, unsere Gegenwart und Zukunft vor der dunkelsten menschlichen Möglichkeit zu warnen, sie zu beschwören. Geist, Verstand und Seele wachzuhalten, um sie nie wieder in einen Zustand zu versetzen, in dem das Böse gut genannt wird und Gutes böse, in dem Finsternis als Licht bezeichnet wird und Licht als Finsternis. Sonst heißt es wieder: „Wir haben doch nichts gewusst.“ Doch, du hast es gewusst: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (Micha 6,8).
Eine Herrschaft der Dunkelheit wie in der NS-Zeit ist nur möglich, wenn die Quelle unseres Rechts, unserer Vernunft, unserer Seele bewusst unkenntlich gemacht und verkehrt wird. Wenn menschliche Führung an Gottes Stelle gesetzt wird und menschliche Ideologie zu gottgleicher Satzung erhoben, wenn Religion und Staatskult sich verbinden, dann sind sämtliche Quellen, die unsere Seele und unseren Geist reinigen und wachhalten, verstopft. Dann kann die Fähigkeit zur Sünde sich voll ausleben. Deswegen sind die Erinnerungsstätten an die Gräueltaten der Nazis auch eine Mahnung an uns heute: Lass niemals zu, dass verdeckt wird, was uns an unseren Platz weist, lass niemals zu, dass das Geschöpf den Schöpfer verdrängt.