Die Frau wollte anders werden. Sie trug die Sehnsucht in ihrem Herzen, noch einmal neu anzufangen. Rauskommen aus dem Alten. Ausbrechen. Abheben und fliegen – frei wie ein Vogel. Die Frau hatte man gründlich zur Niete erzogen. Frausein war damals an sich schon mal schlecht. Frauen waren Menschen zweiter Klasse. Dazu war sie Samaritanerin. Samaritaner galten als Abtrünnige und Glaubensverräter, um die man einen großen Bogen machte. Zu allem Überfluss hatte die Frau fünf Ehen hinter sich und lebte unverheiratet mit dem sechsten Mann zusammen. Es gibt also Gründe, dass sie sich nicht frühmorgens, sondern in gleißender Mittagshitze zum Dorfbrunnen schleppt. Sie möchte nicht wieder und wieder von den anderen Frauen verächtlich angestarrt werden, sie, die bei allen unten durch ist.
Dann hört sie eine männliche Stimme: „Gib mir zu trinken!“ Es konnte nur sie gemeint sein. Sonst war ja niemand da. Sie ist irritiert. Ein Satz, der gleich drei Tabus auf einmal bricht. Ein Mann spricht eine Frau an, ein Jude eine Samaritanerin, der Heilige eine Sünderin. Da setzt sich einer über alles hinweg, was diese Frau kleinhält, und sagt: „Ich brauche etwas von dir!“ Ist das nicht schon der erste Schritt der Wandlung? Da ist keine Anklage, sondern eine Bitte. Wie wertschätzend.
Die Frau kann es nicht fassen und wehrt ab. Darauf dreht Jesus den Spieß um. Er redet jetzt davon, was er, Jesus, der Frau zu geben hat. Lebendiges Wasser? Die Frau versteht nur Bahnhof. Ein Wässerchen, das Flügel verleiht? Sie versteht nicht, dass Jesus den inneren Durst meint. Den Durst nach Leben angesichts der vielen ungelebten Leben. Den Durst nach Liebe angesichts der vielen Verstoßungen, die sie erfahren hat. Die Sehnsucht, dass jemand kommt und in ihr einen wertvollen Menschen entdeckt.
Doch dann die kalte Dusche: „Geh und hole deinen Mann!“ Voll reingelangt in die Wunde! Wenn Jesus uns auf unsere Schuld anspricht, dann tut er das nicht, um uns kleinzuhalten. Es ist ein heilendes Reden. Jesus lässt die Frau noch einmal die Fesseln ihres Lebens anschauen, die eigenen und die, die andere ihr angelegt haben. Auch das gehört zum Neuanfangen: Etwas, was nicht erkannt und benannt ist, kann auch nicht überwunden werden. Jesus legt die Finger auf die Wunden, um zu heilen. So erlebt das jedenfalls die Frau am Brunnen. An dem Ort, wo sich im Blick hinunter in die Tiefe ihr Angesicht spiegelt. Sie erlebt, dass die Wahrheit aus dem Munde Jesu nicht noch weiter einengt, sondern frei macht.
Beflügelt geht sie zurück in ihre frühere Welt und kann nicht mehr an sich halten: „Kommt und seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe.“ Sollte er nicht der Christus sein“, der lang ersehnte Flügelverleiher?