Seit langem halte ich mich, um mit diesem Vers zu sprechen, am Gewandzipfel jüdischer Menschen. Anders möchte ich nicht Christ sein, denn ich habe gehört, dass Gott mit ihnen ist. Sie laden mich ein ins Lehrhaus und lernen mit mir in meiner Sprache Tora, Propheten und Psalmen. Sie heißen mich im Bethaus willkommen, wo ich Gebete und Lieder in ihrer Sprache mitsinge. Durch die Kraft ihrer Spiritualität und die Weisheit ihrer Schriftauslegung vertiefen sich mein Verständnis des Evangeliums und meine Liebe zu dem Juden Jesus.
Wer hat mich dazu gebracht? Jesus Christus hat mich zum Gott Israels und zu seinem Volk geführt. Ich liebte die biblischen Geschichten in der Kinderkirche und im Religionsunterricht der Grundschule. Dann hörte ich, dass im biblischen Land Israel wieder Juden in Freiheit und Selbstbestimmung leben und dass die Erde Europas getränkt ist von ihrem Blut, vergossen von Leuten, die christlich getauft waren. Ich war noch nicht konfirmiert, da war mir klar geworden: Hass, Verachtung oder auch nur Gleichgültigkeit gegen Juden konnte und wollte ich mit meinem Christsein nicht vereinbaren, sondern den jüdischen Weg und die Besonderheit des Volkes Israel achten und unterstützen.
Ich bin berührt von der Hoffnung, die Juden wie Maria, Zacharias und Simeon mit der Geburt Jesu verbanden (Lukas 1–2): „Gott hilft seinem Diener Israel auf.“ – „Dass wir, erlöst aus der Hand der Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang.“ – „Denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.“ Und ich frage mich: Wie kann die Christenheit sich von dieser Hoffnung anrühren und aufrütteln lassen?
In ihren ersten Kapiteln erzählt die Bibel vom Sinn der Besonderheit Israels. Gottes erster universaler Schritt, eine Menschheit zu gründen, führte zum Brudermord und zur Sintflut. Sein zweiter universaler Schritt scheiterte am Turmbau zu Babel, der Verwirrung der Sprachen und der Zerstreuung der Menschheit. Sein dritter Schritt war nicht mehr universal, vielmehr erwählte Gott einen Menschen und seine Nachkommen, um die Menschheit wieder zu sammeln – Abraham, Isaak, Jakob und dessen zwölf Söhne, das Volk Israel, das heilige Volk Gottes. Sie sollen den Namen Gottes, der sich ihnen offenbart hatte, und den Willen Gottes, den er in der Tora offenbart hatte, unter den Völkern bekannt machen. Doch der Erste, der Israel „Volk“ nannte, der Pharao, der nichts mehr von Josef wissen wollte, wollte es vernichten (2. Mose 1). Warum? „Das Volk wird abgesondert wohnen und sich nicht zu den anderen Völkern zählen“, sagt Bileam (4. Mose 23). Was er als Fluch meinte, wandelte Gott in Segen. Haman (Esther 3,8) macht aus demselben Argument wieder einen Fluch.
Was lernen wir daraus? Jede und jeder Einzelne von uns entscheidet selbst, ob er oder sie Israels Besonderheit als Segen oder Fluch versteht. Ich habe mich in meinem Herzen für den Segen und die Liebe, für Tora und Evangelium entschieden und gegen den Hass, der sich wieder so schrecklich überall breitmacht. Ich habe mich entschieden, dass ich „mit euch Juden“ und „mit Gott“ sein will und mich nicht fernhalte. Und ich lege Ihnen allen, die Sie das lesen, ans Herz: Entscheiden Sie sich auch! „Nie wieder“ ist jetzt!