Dass Kirche sich immer verändert, ja verändern muss, ist keine Neuigkeit. Zumal am Reformationstag. Die Gestalt von Kirche unterliegt dem Wandel der Zeiten. Mit Schrecken erkennen wir im Rückblick die Fehler, die Irrtümer und die schwere Schuld, die wir im Laufe einer zweitausendjährigen Kirchengeschichte angehäuft haben.
Dankbar sind wir, dass wir den Reformationstag nicht (mehr) als einen Tag der triumphalen Selbstbehauptung feiern müssen, sondern kritisch fragen, woran wir unser Herz hängen. Gerade so nehmen wir ernst, was Martin Luther selbst in der ersten seiner 95 Thesen formuliert hat, „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“
Zu solcher Umkehr und Erneuerung der Kirche gehört auch die Wahl des Predigttextes für den Reformationstag. Das Schma Jisrael ist Kernstück jüdischer Identität und Zentrum des Gottesdiensts. Dieses Gebet ist das erste Wort beim Aufstehen, das letzte Wort beim Einschlafen. Und in der Stunde des Todes sind es die letzten Worte, mit denen man dem Gott Israels die Ehre gibt.
Das ganze Herz, die ganze Seele mit ihrer Lebenslust und Lebenskraft und alles Vermögen sollen sich auf dieses Zeugnis hin ausrichten. Denn der eine Gott und der ganze Mensch gehören zusammen. Und das ist nun ganz und gar nicht selbstverständlich. Deshalb gibt es Zeichen. Merkzeichen, Erinnerungszeichen sollen sich die Männer umbinden: auf den linken Arm, dem Herzen gegenüber, damit die Worte auf dem Herzen seien, und zwischen die Augen auf die Stirn. Selbst an Stadttoren und Türpfosten sollen diese Worte befestigt werden, damit dieses Bekenntnis Israel umhüllt und bewahrt.
So ist der einzelne, so ist die ganze Gemeinde buchstäblich umringt von diesem Gebot der Gottesliebe und der Zeugenschaft: Angefangen bei den Gebetsriemen an Kopf und Arm, über die Schaufäden an den Gewändern bis hin zu den Mesusot an den Toren und Türen. Das Äußere soll das Innere erreichen: das Herz, die Seele und die Kraft eines Menschen. Und das alles von Kindesbeinen an! Warum dieser gigantische Aufwand? Weil es ums Ganze geht. Weil es darum geht, woran man sein Herz hängt. An die Götter, die versklaven, oder an den Gott, der zur Freiheit beruft. Denn woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott, sagt Martin Luther in der Erklärung zum 1. Gebot.
Am Reformationstag werden wir mit einem überraschenden Predigttext konfrontiert: Am Herzenstag unserer Kirche begegnen wir dem Herzstück jüdischen Glaubens! Deutlicher kann Umkehr und Erneuerung nicht ausfallen. Wir sind nicht Israel und sind dennoch mit Israel verbunden. Nicht nur, weil wir einen Teil der Bibel gemeinsam haben, sondern auch weil Jesus, der Jude, uns miteinander verbindet. Dass Auslöschung und Enterbung Israels kein Weg ist, sondern in die tiefste und abgründigste Schuld führt, haben wir als Kirche hoffentlich gelernt. Der Neuanfang im jüdisch-christlichen Gespräch hat uns gelehrt, unsere Verbundenheit zu erkennen, aber auch unsere Verschiedenheit zu respektieren.