Ecce homo – seht, welch ein Mensch! Mit Pilatus‘ Worten über Jesus setzten sich Künstler in Bildern, Gedichten und Filmen über Jahrhunderte hinweg intensiv auseinander. Johannes‘ Erzählung über Jesu Verhör, Geißelung und die Verspottung durch das Volk zeigt, wie Menschen sind, aber auch, wie Menschen sein könn(t)en.
Johannes erzählt aus zwei Richtungen vom Menschen: Er zeigt das Streben nach Macht und wie uns Zwänge beherrschen. Hohepriester und Schriftgelehrte fürchten um ihre Deutungshoheit in religiösen Fragen und möchten Jesus – Dorn in ihrem Auge – loswerden. Pilatus will sich aus innerjüdischen Machtkämpfen heraushalten, aber verhindern, dass sich an Jesu Verurteilung ein Bürgerkrieg entzündet, der die Römer womöglich die Herrschaft über Judäa kostet. Auch ohne religiöse Auseinandersetzungen um Jesus, der sich Gottes Sohn nennt, brodelt es in Judäa. Das Volk schaut, wer den größten Einfluss beweist.
Mich erinnert das an heutige Verhältnisse: Mächtige in Gesellschaft und Politik setzen sich mit allen Mitteln durch. Menschen dienen sich opportunistisch an, zynisch wie Pilatus, der dem Volk eine unmögliche Wahl gibt: Jesus oder Barabbas. Von vornherein kann es nur Barabbas sein – würde Jesus freigelassen, wäre öffentlich anerkannt, dass Jesus aus eigener Legitimität handelt: Seine Macht ist Gottes Macht der Liebe, sein Reich Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, entgegnet Jesus Pilatus auf die Frage, ob er König der Juden sei. Pilatus‘ Frage geht an der Wirklichkeit vorbei: Wäre Jesus ein König, wie ihn Pilatus meint, zwänge er den Römern und dem Hohen Rat eine kriegerische Auseinandersetzung auf. So ist der Mensch: Macht hat nur, wer sie behaupten kann, ehe ein noch Mächtigerer kommt.
Jesus agiert stark und ohnmächtig zugleich: Er liefert sich Pilatus selbst aus und bekennt im Verhör freimütig seine öffentlichen Äußerungen. Der vermeintlich Ohnmächtige erscheint bei Johannes als der Souveräne. Jesus ist kein Gefangener des Kräfteverhältnisses. Er muss keine Rücksicht nehmen auf Störungen im Machtgleichgewicht, muss nicht auf Volkes Stimme hören. Jesus handelt frei. Die Verhältnisse kehren sich um: Gefangen sind Pilatus, der sich absichern muss, und der Hohe Rat, der die Anklage so formulieren muss, dass Pilatus an ihrer Stelle Jesus verurteilt. Vergleichbar mit heute: Womöglich hat Wladimir Putin im eigenen System am wenigsten Freiheit?
Pilatus will sich heraushalten: „Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde.“ Seht, so ist der Mensch: Er spricht warme Worte über Gerechtigkeit und missgönnt Geflüchteten Hilfe. Er fordert die Bewahrung der Schöpfung und stellt die Heizung auf 22 Grad ein. Der Mensch handelt oft wider besseres Wissen, ist Zwängen und Einflüssen unterworfen wie die Hohenpriester, Kaiphas, Pilatus und das Volk.
Seht, welch ein Mensch! In Jesus kommt eine neue Wirklichkeit, ein anderer Mensch zum Vorschein: Er lässt sich erniedrigen, um andere aufzurichten. Er deckt unser Versagen auf, um unsere Schuld ans Kreuz und durch das Kreuz hindurch zum Leben zu tragen. In Jesus Christus erkennen wir Gott und begegnen ihm und unseren Nächsten mit Liebe und Ehrfurcht. Unsere Ängste haben keine Macht mehr über uns und wir finden Halt und Orientierung.