Prälatur Heilbronn

Leonie Fürst: Die mutige Ärztin während der NS-Zeit

KERNEN-STETTEN – Die Diakonie Stetten erinnert an eine Frau, die während der NS-Zeit Menschen mit Behinderung schützen wollte: Leonie Fürst. Kathrin Bauer hat ein Buch über sie geschrieben. Von Kathrin Bauer

schwarz-weiß Aufnahme einer jungen Frau (Leonie Fürst) Heilbronn
Privatbesitz Barbara Fürst
Leonie Fürst als junge Frau

Leonie Fürst war nahezu in Vergessenheit geraten. Bis die Diakonie Stetten bei der Gedenkstätte Grafeneck eine Forschungsarbeit in Auftrag gab: eine Biografie der Ärztin, die während des Nationalsozialismus Menschen zu schützen versuchte. So entstand das Buch „Oh, ich hasse es, dieses Pack!“.

Die erste Ärztin aus Tuttlingen

Leonie Fürst wurde 1912 als Tochter eines Architekten in Tuttlingen geboren. Obwohl ihre Eltern für sie ein Leben als Hausfrau vorgesehen hatten, studierte sie und war 1938 die erste Frau aus Tuttlingen mit einem abgeschlossenen Medizinstudium.

Ihr Berufsweg führte sie 1940 als stellvertretende Anstaltsärztin in die Heil- und Pflegeanstalt Stetten. Zunächst kümmerte sich Leonie Fürst um die allgemeine gesundheitliche Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner.

Konfrontation mit den Verbrechen der Nazis

Doch schon wenige Monate nach Antritt ihrer Stelle wurde sie mit einem der großen Verbrechen der NS-Zeit konfrontiert: der staatlich beauftragten und organisierten Deportation und Ermordung mehrerer Tausend Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen.

Schwarz Weiß Aufnahme von einem Schloss, umgeben von Wald
Archiv Gedenkstätte Grafeneck
In Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb wurden 1940 Tausende ­Menschen ermordet. Heute beherbergt es eine Gedenkstätte.

Leonie Fürst interveniert

Es folgte ein monatelanges Ringen um einzelne Bewohnerinnen und Bewohner und die Existenz der Einrichtung als Ganzes. Monate voller Momente des Konflikts und Versuchen der Intervention, aber auch der Kooperation und des Geschehenlassens. Immer wieder stieß die junge Ärztin dabei an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und ihres Berufsverständnisses. Im Jahr 1940 wurden 395 Menschen aus Stetten nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb deportiert und dort in der Gaskammer ermordet.

„Gegenwärtig sein, bereit sein einzugreifen, wenn die Situation es erfordert, ist wichtig.“ So lautet eine von Leonie Fürsts zentralen Botschaften, die sie in hohem Alter formulierte. Doch was bedeutete das für die junge Frau im Jahr 1940?

Das Foto zeigt eine Karte auf der steht "Über Reiss, Paul, geb. 1.12.1904 in Paris. Abgeklungene Schizophrenie. Geistig wenig geschädigt. Liest und schreibt gut, still, reinlich.
Archiv Diakonie Stetten
Leonie Fürst schrieb ein positives Gutachten für Paul Reiss. Trotz des Gutachtens wurde er in Grafeneck ermordet.

Schutz vor Deportation trotz hohem Risiko 

Sie schrieb Gutachten, die Bewohnerinnen und Bewohner als arbeitsfähig und eigenständig darstellten, um sie so vor der Deportation zu bewahren. Sie unterstützte Angehörige, die ihre Verwandten aus der Anstalt holen wollten. Trotz des persönlichen Risikos scheute sie auch nicht die Konfrontation mit den Transportleitern aus Grafeneck oder Beamten des württembergischen Innenministeriums.

1940 wurden 10.654 Menschen aus Kliniken, Heil- und Pflegeanstalten in Grafeneck ermordet. Die Gedenkstätte Grafeneck erinnert an die Opfer. Auch auf dem Gelände der Diakonie Stetten wird die Erinnerung wachgehalten: am „Stein des Gedenkens“ mit den eingravierten Namen der Opfer, im Wildermuthhaus mit den Tonfiguren von Jochen Meyder und in der Schlosskapelle.

Leonie Fürsts große Verzweiflung

Leonie Fürst erkannte jedoch schnell, dass weder ihre Verhandlungen noch die positive Begutachtung dem Vernichtungswillen des NS-Staates viel entgegenzusetzen hatten. Einen Einblick in ihre Verzweiflung und Ohnmacht gewährt ein Brief an ihren Mann vom September 1940. Darin bringt sie ihre Haltung klar zum Ausdruck: „Oh, ich hasse es, dieses Pack!“ Ende 1940 wurde die Anstalt Stetten geschlossen. Leonie Fürst war nicht mehr als Ärztin tätig. 1942 brachte sie einen Sohn zur Welt.

Leonie Fürst war ihrer Zeit weit voraus

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ließ sich Leonie Fürst 1948 in Ailingen am Bodensee nieder. Hier baute sie eine Landarztpraxis auf und ließ 1954 ein Geburtshaus bauen. In diesem Haus ermöglichte sie es den Müttern, dass sie mit ihren Kindern zusammenbleiben konnten – eine Praxis, die ihrer Zeit weit voraus war. Für dieses Engagement wurde sie 1987 mit dem Bundesverdienstkreuz am Band ausgezeichnet. Leonie Fürst starb 1996. 2001 wurde eine Straße in Ailingen nach ihr benannt.

Zivilcourage und der Einsatz für andere

Die Biografie von Leonie Fürst zeigt eindringlich, wie wichtig Zivilcourage und der Einsatz für andere sind. Menschlich sein, hinsehen, eingreifen – Leonie Fürst hat versucht, sich diese Haltung zu bewahren, auch als sie mit den Verbrechen der NS-Zeit konfrontiert war. Ihre Botschaft ist zeitlos: Es liegt in unserer Verantwortung, für Gerechtigkeit und Menschlichkeit einzutreten.

Kathrin Bauer: „Oh, ich hasse es, dieses Pack!“. Leonie Fürst – eine Ärztin und die NS-‚Euthanasie‘-Verbrechen. Gedenkstätte Grafeneck, 144 Seiten. Auf der Website der Diakonie Stetten können Sie das Buch kostenfrei herunterladen.

Weitere Artikel aus der Prälatur Heilbronn