Prälatur Stuttgart

Trennung und Abschied

Kinder von Missionaren in Indien, China oder Afrika wurden häufig früh für die Schulausbildung nach Europa geschickt. Manchmal sahen sich die Familien jahrzehntelang nicht wieder. Das Gefühl von Entwurzelung und Fremdsein begleitete viele ein Leben lang. Die Kulturwissenschaftlerin Dagmar Konrad hat ein Buch über diese Missionskinder geschrieben. Von Ulrike Rapp-Hirrlinger

Stuttgart
Foto: Ulrike Rapp-Hirrlinger
Reinhold Riedel, Christel Köhle- Hezinger und Dagmar Konrad (von links) an einem Ehrengrab für Missionare auf dem Esslinger Ebershaldenfriedhof.

 

 

 

Foto: Ulrike Rapp-Hirrlinger
Dagmar Konrad hat ein Buch über die Missionskinder geschrieben.

Ihre Kindheit und Jugend prägten Verluste, Trennungen und Neubeginn. Kinder aus Missionarsfamilien wurden, wenn sie schulpflichtig wurden, nach Europa geschickt und damit von ihren Eltern, aber auch jüngeren Geschwistern getrennt. So sah es die „Kinderverordnung“ der Basler Mission von 1853 vor.

Neben dem Wunsch, den Kindern eine geeignete Schulbildung zu ermöglichen, war es die Vorstellung, dass die „heidnische Umgebung“ den Kindern schadet. Zudem galt der Grundsatz: „Der Missionar gehört der Mission.“ Die Ehefrauen waren darin einbezogen. In Europa lebten die Kinder entweder bei Verwandten oder im Kinderhaus der Missionsgesellschaft in Basel. Nicht nur Eltern, sondern auch Geschwister wurden sich dadurch fremd, vor allem, weil die Kinder bei der Trennung so klein waren, erklärt die Autorin Dagmar Konrad

Wenn sie sich nach zehn oder mehr Jahren wiedersahen, waren die Kinder erwachsen.

Dagmar Konrad, Kulturwissenschaftlerin

Zuweilen erkannten sie sich nicht wieder, mussten sich neu kennenlernen. Manchmal gab es auch kein Wiedersehen, wenn Eltern oder Kinder während der Trennung verstarben. Entfremdung, emotionale Distanz und gebrochene Familienbiografien seien häufig die Folge dieser Praxis gewesen, sagt die promovierte Kulturwissenschaftlerin.

Der verstorbene Esslinger Arzt und Missionar Gottfried Riedel hat die Not der Missionskinder erkannt: „Unsere Kinder waren die Leidtragenden unserer Arbeit in Indien“, schreibt er. Auch für zurückbleibende Geschwister sei der Abschied zuweilen eine traumatische Erfahrung gewesen, erklärt Konrad.

In Europa erwartete die Kinder, die alles Vertraute zurücklassen mussten, ein unbekanntes Land. Viele beherrschten die deutsche Sprache nicht oder nur schlecht. Das galt bis ins 20. Jahrhundert.

Ich sprach besser Malayalam als Hochdeutsch

erinnert sich Reinhold Riedel, Sohn des Esslinger Missionars

1952, da war er gerade drei Jahre alt, reiste Helene Riedel mit ihren damals vier Kindern von Esslingen ihrem Mann nach Südindien nach. Mit sechs Jahren kamen die Kinder dort in ein viele Autostunden entferntes Internat. Mit 14 Jahren dann der nächste Bruch: Gemeinsam wurden die vier ältesten Kinder nach einem längeren Heimaturlaub bei der Familie in Esslingen zurückgelassen und kamen bei Verwandten unter. Im 19. Jahrhundert ließen viele Missionare zuweilen selbst Kleinkinder oder gar Säuglinge in Deutschland zurück.

Für Reinhold Riedel, der eine ganze Reihe von Missionaren zu seinen Vorfahren zählt, war es ein kompletter Neuanfang, eine „Rückkehr in die Kultur der Eltern“. Er habe sich nicht in Esslingen „abgeladen“ gefühlt. Zumal er die Arbeit der Eltern bewundert habe. Dennoch habe er sich anfangs sehr fremd gefühlt.

Europa kam mir kalt und unwirtlich vor.

Reinhold Riedel

Die Umgangsformen, Lebensgewohnheiten, die Schule und Lehrinhalte und Unterrichtsmethoden – alles neu und ungewohnt. „Für mich war Indien das Paradies. Es kam mir viel christlicher vor als Esslingen.“ Die Ankunft in einem Land, das ihnen gänzlich unvertraut war, sei ein Kulturschock gewesen, sagt die Esslinger Kulturwissenschaftlerin und emeritierte Professorin für Volkskunde an der Universität Jena, Christel Köhle-Hezinger.

Foto: Waxmann-Verlag/privat
Beispiel einer Missionarsfamilie aus dem Jahr 1919 in Marcara/Indien: Familie Farrer mit Kindermädchen.

Dass die Eltern ihre Arbeit über das Wohl der Kinder stellten, damit haderten manche Missionskinder bis ins hohe Alter, weiß Konrad. Reinhold Riedel will seinen Eltern  keinen Vorwurf machen. „Ich habe ihre Arbeit bewundert.“ Und doch sagt er:

Heute denke ich, dass es nicht richtig war, den Dienst am Herrn höher zu bewerten als die Kinder.

Und auch sein Vater schreibt, er und seine Frau hätten sich später oft gefragt, „ob der Preis, den die Kinder für unsere Ideale bezahlen mussten, nicht zu hoch war.“ Viele Missionskinder fühlten sich ein Leben lang dem Land ihrer Kindheit verbunden. „Indien ist immer noch ein Stück Heimat“, sagt Riedel. Auch heute noch kocht er etwa häufig indisch und auch Sprachkenntnisse hat er sich erhalten.

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