Der verstorbene Esslinger Arzt und Missionar Gottfried Riedel hat die Not der Missionskinder erkannt: „Unsere Kinder waren die Leidtragenden unserer Arbeit in Indien“, schreibt er. Auch für zurückbleibende Geschwister sei der Abschied zuweilen eine traumatische Erfahrung gewesen, erklärt Konrad.
In Europa erwartete die Kinder, die alles Vertraute zurücklassen mussten, ein unbekanntes Land. Viele beherrschten die deutsche Sprache nicht oder nur schlecht. Das galt bis ins 20. Jahrhundert.
Ich sprach besser Malayalam als Hochdeutsch
erinnert sich Reinhold Riedel, Sohn des Esslinger Missionars
1952, da war er gerade drei Jahre alt, reiste Helene Riedel mit ihren damals vier Kindern von Esslingen ihrem Mann nach Südindien nach. Mit sechs Jahren kamen die Kinder dort in ein viele Autostunden entferntes Internat. Mit 14 Jahren dann der nächste Bruch: Gemeinsam wurden die vier ältesten Kinder nach einem längeren Heimaturlaub bei der Familie in Esslingen zurückgelassen und kamen bei Verwandten unter. Im 19. Jahrhundert ließen viele Missionare zuweilen selbst Kleinkinder oder gar Säuglinge in Deutschland zurück.
Für Reinhold Riedel, der eine ganze Reihe von Missionaren zu seinen Vorfahren zählt, war es ein kompletter Neuanfang, eine „Rückkehr in die Kultur der Eltern“. Er habe sich nicht in Esslingen „abgeladen“ gefühlt. Zumal er die Arbeit der Eltern bewundert habe. Dennoch habe er sich anfangs sehr fremd gefühlt.
Europa kam mir kalt und unwirtlich vor.
Reinhold Riedel
Die Umgangsformen, Lebensgewohnheiten, die Schule und Lehrinhalte und Unterrichtsmethoden – alles neu und ungewohnt. „Für mich war Indien das Paradies. Es kam mir viel christlicher vor als Esslingen.“ Die Ankunft in einem Land, das ihnen gänzlich unvertraut war, sei ein Kulturschock gewesen, sagt die Esslinger Kulturwissenschaftlerin und emeritierte Professorin für Volkskunde an der Universität Jena, Christel Köhle-Hezinger.