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Prälatur Stuttgart

Zeitkapseln in Cannstatter Stadtkirche geöffnet

STUTTGART – Auf dem Turm der evangelischen Stadtkirche in Bad Cannstatt wurde die goldene Turmkugel geöffnet, um acht Zeitkapseln zu entnehmen. Von Brigitte Jähnigen

Ein Klempnermeister und sein Mitarbeiter öffnen eine historische Zeitkapsel. Sie wird in einer Rolle aufbewahrt. Der Dekan schaut gebannt zu. Stuttgart
Brigitte Jähnigen
Dekan Eckart Schultz-Berg (Mitte) schaut gebannt zu, wie eine Zeitkapsel in Rollenform geöffnet wird.

„Erwartet habe ich zwei, dass es nun acht sind, flasht mich schon ein bissle“, sagt Dekan Schultz-Berg mit einem Strahlen im Gesicht. Kirchturmsanierungen finden in der Regel alle 60 bis 80 Jahre im Rahmen von Gesamtsanierungen statt. Oder wenn – wie in der ältesten Zeitkapsel aus dem Jahre 1661 bekundet – der Turm beschädigt wurde.

Die Zeitkapseln: Zeugen der Vergangenheit

„Demnach durch einen großen Sturmwind/der Knopff uff der ­Kürchen/sambt dem Haanen alhier zu Canntstatt herab geworfen: und verderbt worden.“ Oswald Dübgen ist auf alte Schriften spezialisiert und hat den Text transkribiert. Ein Dokument aus dem Jahr 1719 bescheinigt „heftige Sturmwinde und Ungewitter“, auch wenn das handschriftliche Papier mit den Worten „Gloria in Excelsis Deo – Ehre sei Gott in der Höhe“ endet.

Münzen, sepiafarbene Fotos, Tageszeitungen

1790, „nachts um kurz vor zwölf Uhr“, hat ein Blitz in die Stube des Turmwächters eingeschlagen. Einer weiteren handschriftlichen Rolle ist zu entnehmen, dass deswegen 1874 die Installation eines Blitzableiters beschlossen wurde. Berichte von Pfarrern, Landesbischof, Stadtamtsschreiber und Musiker über das Turmblasen, Münzen, sepiafarbene Fotos, Adressverzeichnisse der lokalen Geschäfte, Tageszeitungen, Werbung für Gasthöfe und Konzerte im Cannstatter Kursaal, in gewachstes Papier verpackt, mit Siegel und Schnur versehen oder nur schlicht eingewickelt – alle Dokumente aus der 60 Zenti­meter Durchmesser umfassenden Kugel sind Zeugen vergangener Zeiten. Und nicht nur die meteorologischen Unwetter wirkten zerstörend, auch der Wunsch eines Stadtschreibers an die Nachfahren im Jahre 1904 („möge die Öffnung des kupfernen Behältnisses in friedlichen Zeiten erfolgen“) zeugt von der Unbeständigkeit menschlicher Existenz.

Zehn Jahre später war Krieg.

sagt Dekan Eckart Schultz-Berg

Die Geschichte der Cannstatter Stadtkirche

Die evangelische Stadtkirche St. Cosmas und Damian in Bad Cannstatt wurde als spätgotische Hallenkirche in den 1460er-Jahren nach dem Entwurf von Aberlin Jörg anstelle einer Vorgängerkirche aus dem 13. Jahrhundert errichtet. Von 1612 bis 1613 wurde sie nach Plänen von Heinrich Schickardt umgebaut. Die Kirche gehört zu den Baudenkmälern in Baden-Württemberg. Der Turm enthält in zwei nachträglich aufgestockten Geschossen den Glockenstuhl. Kreuz, Turmhahn und goldene Kugel mit den Zeitkapseln befinden sich in etwa 50 Meter Höhe.

Spannender Moment: Die Entnahme der Zeitkapseln aus der goldenen Kugel

Also mussten Dekan Eckart Schultz-Berg, Klempnermeister Peter Bielohlawek und ein Kamerateam mit einer Hebebühne in luftige Höhen gefahren werden. Die erste Fahrt misslingt, zwei Meter fehlen bis zur Kugel. Nach kniffligem Umrangieren des Fahrzeuges in den engen Altstadtgassen fährt das Team erneut empor. Die Zeit drängt mit Blick in den dunklen Himmel. Anbohren, Sichtfenster schneiden, Kugelhälfte auflöten, aufschneiden, Kapseln entnehmen: Die Arbeitsschritte sind für Klempnermeister Bielohlawek Routine. Und doch immer spannend. Fast so spannend wie für den Dekan, der die ersten Kapseln nach der Entnahme lachend in die Höhe hält. Und auch aufregend für Zaungäste und Passanten.

Gut erhaltene historische Dokumente 

Das Öffnen der Kugel und die Entnahme der Zeitkapseln ist ein historischer Moment. Dem sind sich alle bewusst. Vorab schon hatte der Dekan daran erinnert, dass von den vier Großkirchen in Stuttgart – Stiftskirche, Hospitalkirche, Leonhardskirche und Cannstatter Stadtkirche – Letztere wohl die einzige ist, deren Dokumente aus den früheren Jahrhunderten im Krieg nicht zerstört wurden. Abgesehen davon, dass in vergangenen Zeiten das Dokumentieren nicht so eifrig betrieben wurde.

Man hat an allem gespart, auch am Papier

sagt  Dekan Eckart Schultz-Berg

Die Dokumente wurden gesichtet, gescannt, fotografiert, aus dem Sütterlin transkribiert, ein paar Stunden für die Bevölkerung ausgestellt, dann wieder in die Kapseln gepackt und in der Kugel verschlossen: Auch dieser historische Tag nahm sein Ende. Wer in 60, 70 oder 80 Jahren die inzwischen neu vergoldete Kugel an der Turmspitze öffnen wird, findet dann auch Überlassenschaften unserer Zeit: Euro-Münzen, Fotos, Berichte über die 2,7 Millionen Euro kostende aktuelle Sanierung der ­Kirche und Schlaglichter zur politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Situation.

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